SPAZIERGANG MIT S.M. 57
heitlich sehr zuträgliche Leidenschaft für frische Luft geerbt. Namentlich
in seinen ersten Herrscherjahren hatte er die Kräfte alter Exzellenzen aus
der Regierungszeit seines Großvaters auf eine harte Probe gestellt, wenn er
ihre Vorträge bei raschem Gehen oder gar auf schwankendem Schiff ent-
gegennahm. Ich war körperlichen Anstrengungen gewachsen und ging gern
auf den Vorschlag eines „tüchtigen Spaziergangs“ ein. Der Kaiser ließ sich
mit mir an Land setzen und schritt rüstig querfeldein. Er war damals das
Bild der Gesundheit und Kraft, nicht so stattlich wie sein Vater, nicht ehr-
furchtgebietend wie sein Großvater, aber voll Leben und Unternehmungs-
geist, eine sehr anziehende Erscheinung. Wir begegneten auf unserer
Wanderung, meist auf Sandwegen und längs der Holsteinschen Knicks,
nur hin und wieder Arbeitern und Tagelöhnern. Es fiel mir auf, und ich
freute mich, wie völlig gleichgültig und unbesorgt der Kaiser, obschon sich
weder Polizisten noch Detektive in der Nähe zeigten, auch offenbar für
seinen Schutz keinerlei Maßregeln getroffen waren, gegenüber jeder
Attentatsgefahr erschien. Kritische Beobachter und Beurteiler Seiner
Majestät, an denen es gerade in seiner Nähe nicht fehlte, meinten, das sei
der Schneid der Unwissenheit. Der Kaiser fürchte nie, was er nicht mit
Händen greifen könne; trete aber die Gefahr unmittelbar vor ihn, so sei
deren Eindruck auf ihn desto stärker. Ich halte auch heute diese Beur-
teilung für ungerecht. Der Kaiser besaß zweifellos physischen Mut.
Schon daß er sich mit nur einem brauchbaren Arm zu Pferde setzte, un-
verzagt darauf losritt, ja Hecken und Gräben nahm, bewies seine Furcht-
losigkeit. Als sich mehrere Jahre später bei Wilhelm II. eine Wucherung
im Halse zeigte, was in Erinnerung an das Krebsleiden seines Vaters wohl
jeden Menschen stark impressioniert haben würde, verlor er in keiner Weise
die Haltung. Nervöse Zusammenbrüche traten bei ihm ein nach großen
seelischen Enttäuschungen oder wo er sich vor einer schweren politischen
Gefahr sah oder zu befinden glaubte, die ihn aus dem Himmel seiner
Phantasien riß. Ohne ein „fool‘ zu sein, lebte er nun einmal oft in „a fool’s
paradise“. Für sein seelisches Gleichgewicht war ich oft besorgt, und zu den
Gründen meiner auf die Erhaltung des deutschen Friedens gerichteten
Politik gehörte, wenn auch nicht in erster Linie, die Überzeugung, daß
Wilhelm II. nicht wie sein Vater und Großvater oder gar der große König
seelisch den Wechselfällen und Prüfungen der ganzen Belastungsprobe
eines großen Krieges gewachsen sein würde. Ich bin überzeugt, daß der
Kaiser dies auch selbst fühlte und daß das einer der Gründe war, aus denen
er lebhaft wünschte, daß ihm die Prüfung eines großen Krieges nicht auf-
erlegt werden möge.
Während wir weiterschritten, frug der Kaiser zum zweiten Male:
„Wie steht es also mit meinen Schiffen?“ Ich entwickelte ihm nun