78 SCHLIEFFENS ALARM
5. Die deutsche Staatsleitung lege den höchsten Wert auf Wahrung
ihres Rufs als strenge Beobachterin der Verträge, die Europa zur Be-
wahrung seines Friedens geschlossen habe. Überdies lehre der gesunde
Menschenverstand, daß es nicht gerade klug wäre, die Waffenkräfte
Belgiens oder der Schweiz zur Waffengemeinschaft mit dem französischen
Angriff zu zwingen.
Graf Alfred Schlieffen, mit dem ich nach wie vor diesem Gespräch in
einem ungetrübten freundschaftlichen Verhältnis gestanden habe, drehte
nach seiner Gewohnbeit mehrmals sein Monokel im Auge herum und meinte
dann: „Natürlich! Das stimmt noch heute. Wir sind seitdem nicht dümmer
geworden.“ Allerdings, fügte Schlieffen hinzu, neige er zu der Ansicht, daß
Holland im Kriegsfall in uns seinen natürlichen Bundesgenossen gegen
England sehen würde. Was Belgien angehe, so würde essich einem deutschen
Einmarsch wohl kaum mit Waffengewalt widersetzen, sondern sich mit
einem Protest begnügen. Übrigens glaube er, Schlieffen, daß im Falle eines
großen Krieges die Franzosen, eventuell auch die Engländer, sofort in
Belgien einrücken würden. Damit bekämen wir die Hände frei. Ich betone
ausdrücklich, daß nach meiner Kenntnis der Verhältnisse es bis zum Welt-
krieg auch Generalstäbler gegeben hat, die für den Fall eines deutsch-
französischen Krieges den Weg durch Belgien nicht für den richtigen hielten,
jedenfalls nicht für den einzig möglichen, um Frankreich zu schlagen. Auch
nach dem Kriege sagte mir einer unserer bekanntesten Generäle, wir hätten
besser getan, nicht den Weg über Belgien mit seinen fürchterlichen poli-
tischen Konsequenzen zu wählen, sondern uns für eine andere Kombination
zu entscheiden.
Ich will bei diesem Anlaß auch noch vorgreifend erwähnen, daß einige
Monate vor meinem Rücktritt Graf Alfred Schlieffen in der „Deutschen
Revue“ einen ziemlich alarmierend gehaltenen Aufsatz über die Chancen
eines allgemeinen Krieges veröffentlichte, der einige Wendungen enthielt,
die in Belgien Unbehagen erregten. Einen darauf bezüglichen Bericht des
Grafen Wallwitz, der zu jener Zeit noch das Reich in Brüssel vertrat,
übersandte ich dem damaligen Chef des Generalstabes der Armee, dem
Generaloberst von Moltke, der mir unter dem 19. Januar 1909 wörtlich
erwiderte: „Es ist mir unerfindlich, wie aus den Ausführungen des Grafen
Schlieffen herausgelesen werden kann, daß man maßgebenden Orts mit
dem Durchmarsch unserer Truppen durch Belgien als etwas Höchstwahr-
scheinlichern, etwas Gegebenem rechnet. Es dürfte Graf Wallwitz, dem zur
Zeit seiner Berichterstattung der Urtext des Aufsatzes noch nicht vorlag,
nicht schwerfallen, an der Hand des Textes etwa auftretende Bedenken zu
zerstreuen.‘‘ Ich möchte endlich noch feststellen, daß auf meine Anfrage
vom 1. Juli 1920, ob nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck, unter der