Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Persönliche 
Beziehungen 
Bülows zum 
Kaiser 
VI. KAPITEL 
Bülows Verhältnis zu Wilhelm II.: Bülow hat das Gefühl, Seiner Majestät allmählich 
unbequem zu werden » Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet » Die Bergarbeiternovelle- 
Debatte im Preußischen Abgeordnetenhaus » Die neuen Handelsverträge im Reichstag 
(1.11. 1905) « Zustimmende Briefe und Erklärungen + Die Annahme der Kanalvorlage 
(25. II. 1905) - Minister von Budde » Verhältnis Wilhelms Il. zu den Parteien - Briefe 
des Grafen Monts über Zentrum und Katholizismus » Mission des Freiherrn von Hert- 
ling nach Rom - Rücktritt des Oberpräsidenten von Schlesien, Fürsten Hatzfeldt- 
Trachenberg » Dr. Michaelis, der spätere Reichskanzler, wird für die Stellung eines 
Oberpräsidialrats in Breslau zu unbedeutend befunden + Die Marokko-Frage, Stellung- 
nahme Wilhelms II. 
uf dem Gebiet der inneren Politik fehlte es so wenig an kaiserlichen 
Entgleisungen wie hinsichtlich der diplomatischen Behandlung unserer 
Nachbarn, nur waren sie weniger gefährlich. Das in der auswärtigen Politik 
zerschlagene Porzellan war kostbarer, als was im Innern zu Schaden kam. 
Ich habe bis zu meinem Rücktritt an der Überzeugung festgehalten, daß 
es zu einer Revolution nur nach einem unglücklichen Krieg kommen würde. 
Zu wünschen war allerdings, daß Wilhelm II. nicht durch ungeschickte 
autokratische Allüren die intellektuellen Kreise zu sehr vor den Kopf 
stieß. Dabei war Wilhelm II. im Grunde und in Wirklichkeit in keiner Weise 
ein Monarch a la Friedrich Wilhelm I. oder Nikolaus I. Er gab sich nur den 
Anschein eines Autokraten, ohne es zu sein. Er hat nie ernstlich daran ge- 
dacht, die Verfassung aufzuheben. Es fehlte ihm zum wirklichen Autokraten 
die Festigkeit, die Härte, die geistige Energie, die Stetigkeit. Seine Auf- 
fassung des Herrscherberufs ist mir nie deutlicher entgegengetreten als bei 
einem kurzen Gespräch, das ich einmal im Neuen Palais mit ihm hatte. 
Ich war mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter zur Mittagstafel 
eingeladen. Nach Tisch zeigte uns der Kaiser in liebenswürdiger Weise die 
von Friedrich dem Großen bewohnten Zimmer. Auf einem Tisch lag unter 
einer Glasplatte ein Faksimile des Testaments des großen Königs, das, 
an seinen Neffen und Nachfolger gerichtet, in französischer Sprache un- 
gefähr mit den Worten anhebt: Der Zufall der Geburt habe den künftigen 
Friedrich Wilhelm II. zum Erben der Krone bestimmt. Nur durch Tüchtig- 
keit, Gewissenhaftigkeit und ernste Arbeit könne er beweisen, daß er diese 
Stelle verdiene. Wilhelm II. trat auf mich zu, als ich diese herrlichen Worte
	        
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