Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Der 
problematische 
Holstein 
112 HOLSTEIN ÄRGERT SICH 
Holstein, mindestens ebenso impressionabel wie der Kaiser, aber älter 
und verbrauchter, ärgerte sich über diese Abweichung vom Programm, das 
er gern als das seine betrachtet zu sehen wünschte, so sehr, daß er in der 
darauffolgenden Nacht eine starke Magenblutung erlitt. Sie war das erste 
Auftreten eines Leidens, dem er vier Jahre später erliegen sollte. Ich will 
bei diesem Anlaß feststellen, daß die ganze Aktion, für die ich vor dem 
Reichstag wie vor der Öffentlichkeit sofort die volle Verantwortung über- 
nommen habe, von mir ausging. Gerade weil Holstein sich möglichst im 
Hintergrunde und im Dunkeln hielt, nur wenig Menschen sah, einsam in der 
von der Wilhelmstraße weit entfernten Großbeerenstraße in drei kleinen 
Zimmern hauste, erschien seine Persönlichkeit und seine politische Tätigkeit 
den meisten in fast romanhaftem, jedenfalls sehr übertriebenem, bisweilen 
auch verzerrtem Licht. Sein Einfluß war während meiner Amtszeit nicht 
80 groß wie in den vorhergegangenen zwei Jahrzehnten. So paradox dies 
auch manchem erscheinen mag, Holstein übte nie einen größeren Einfluß 
aus als während der zweiten Hälfte der Ära Bismarck. Damals war seine 
Macht namentlich in Personalien sehr weitreichend, seine Stellung fast 
unerschütterlich durch das absolute Vertrauen, das der große Kanzler 
persönlich in ihn setzte, wie durch die intime Freundschaft, die Herbert 
Bismarck seit seiner ersten Jugend mit Holstein verband, der als Attach& 
der preußischen Gesandtschaft in St. Petersburg ständiger Gast im Hause 
des damaligen Gesandten von Bismarck-Schönhausen gewesen war. 
Namentlich seit dem 1879 erfolgten Tode meines Vaters, der, solange er 
das Auswärtige Amt leitete, durch seine alten, vertrauensvollen Beziehun- 
gen zum Fürsten Bismarck wie durch seine Ruhe und Abgeklärtheit ein 
nützliches Gegengewicht zu Holstein gebildet hatte, trat letzterer mehr und 
mehr in den Vordergrund. Mein Vater liebte Holstein nicht, sie waren ganz 
verschiedenartige Naturen. Holstein, dem, wenn er wollte, auch ein senti- 
mentaler Augenaufschlag zu Gebote stand, hat mir mehr als einmal gesagt, 
er wisse sehr gut, daß er bei meinem Vater nicht in Gnaden gestanden 
habe; um so rührender wären die Hingebung und Treue, mit der er mich 
unterstütze und mir „diene“. Nachdem Fürst Bismarck, zweifellos nicht 
ohne Mitwirkung von Holstein, gestürzt worden war, klammerten sich seine 
Nachfolger Caprivi und Marschall, denen zunächst jeder Überblick über 
das internationale Schachbrett, alle diplomatische Routine und selbst die 
nötigen Sprachkenntnisse fehlten, an Holstein an wie Ertrinkende an einen 
Rettungsgürtel. Er mußte aber die Macht, die er dadurch gewann, mit 
Kiderlen teilen, der sich nicht gern die Butter vom Brot nehmen ließ. Auch 
war er gerade damals der Gegenstand heftiger Presseangriffe namentlich 
im „Kladderadatsch‘“ und in der Hardenschen „Zukunft“, die ihn noch 
menschenscheuer und damit noch weltfremder machten als früher. Unter
	        
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