Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

142 SOCIETAS LEONINA 
Engländer, welche wohl wissen, dal3 insbesondere Dänemark sich freiwillig 
nie Tendenzen anschließen wird, die es mit England in Konflikt bringen 
könnten, würden, wenn solche auf den Ausschluß der englischen Flotte aus 
der Ostsee gerichtete Absichten greifbare Gestalt annähmen, gegen uns vor- 
gehen. Die Kriegsgefahr ist näher, als sie seit Jahren war. Ich habe mich 
gefragt, ob Ew. Majestät bei Einfügung des Zusatzes ‚en Europe‘ vielleicht 
nur den Fall im Auge gehabt haben, daß England Rußland angreift und 
wir beizuspringen haben. In diesem Fall sind für Angriff und Küsten- 
verteidigung in Europa erforderlich die deutsche Flotte, das bißchen 
russische Flotte und geringe Teile der deutschen und der russischen Armee. 
Es blieben also noch disponibel fast die gesamte deutsche und russische 
Armee, welche an die einzige sonst noch in Betracht kommende Kriegsstelle, 
die indische Grenze, sich zu werfen hätten. Der Fall, daß England Rußland 
angreift, ist aber sehr viel unwahrscheinlicher, als daß England uns an- 
greift. Das hat sich schon 1885, vor zwanzig Jahren, bei dem afghanischen 
Konflikt, das hat sich vor einem Jahr bei der Beschlagnahme englischer 
Handelsschiffe durch russische Kreuzer und anläßlich des Zwischenfalls bei 
der Doggerbank wiederum gezeigt. Das geht aus der ganzen Tendenz der 
gegenwärtigen englischen Politik wie aus den persönlichen Dispositionen 
Sr. Majestät des Königs Eduard hervor. Und wenn es zu einem solchen 
englischen Angriff gegen Rußland käme, würde immer noch ein Vorgehen 
der englischen Flotte gegen die russischen europäischen Küsten wahr- 
scheinlicher sein als ein englischer Vormarsch in Asien. Auch liegt es auf der 
Hand, daß die Erfüllung der Verpflichtung, Truppen nach Asien zu senden, 
in aller Loyalität wohl jederzeit von uns wird abgelehnt werden können im 
Hinblick auf die Notwendigkeit, Frankreich gegenüber unsere militäri- 
schen Kräfte zusammenzuhalten. So weit meine Voraussicht reicht, wird der 
Vertrag in seiner jetzigen Fassung mit dem Zusatz ‚en Europe‘, wenn er 
bekannt wird, in England mit einem großen Gefühl der Erleichterung auf- 
genommen werden. Dem deutschen Volk aber wird dieser Vertrag als eine 
Societas leonina erscheinen, wo wir unendlich viel mehr geben und riskieren 
als der andere Teil. Was Frankreich angeht, so sind wir durch den Vertrag 
mit oder ohne ‚en Europe‘ gesichert an unserer Ostgrenze für die Fälle, daß 
uns Frankreich angreift oder neutral bleibt. Der erstere Fall ist wenig wahr- 
scheinlich. Der letztere wäre das Ungünstigste, was uns passieren könnte, 
denn Frankreich würde nur so. lange neutral bleiben, bis wir durch England 
8o weit geschwächt wären, daß es uns gegenüber freiere Hand hätte. Der 
Fall, daß wir Frankreich angreifen, ist durch den Vertrag nicht gedeckt, 
wohl aber durch den russisch-französischen Zweibundsvertrag. Der deutsch- 
russische Vertrag in seiner ursprünglichen Fassung ohne den Zusatz ‚en 
Europe‘ würde bei einem Zusammenstoß mit England die Chancen so
	        
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