Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Die deutschen 
Vertreter : 
Radowitz und 
Toattenbach 
200 RADOWITZ 
zu überstehen, dem italienischen Nationalstaat aber geholfen, in seinem 
hundertjährigen Werdegang auch Rückschläge und Mißerfolge zu über- 
winden, um schließlich alle Aspirationen der italienischen Patrioten von 
Azeglio Gioberti und Mazzini bis zu Cavour, Crispi und Giolitti restlos zu 
verwirklichen. 
Wenn ich mir über die uns in Algeciras erwartenden erheblichen 
Schwierigkeiten keine Illusionen machte, so wußte ich erst recht, daß die 
deutsche öffentliche Meinung in ihrer von Gefühlsmomenten inspirierten, 
zwischen dröhnenden Welteroberungsphrasen und weltfremden pazifisti- 
schen Sentimentalitäten hin und her schwankenden, meist kindlich-naiven 
Betrachtungsweise auch mit einem relativ günstigen Ergebnis der Konferenz 
unzufrieden sein würde. Wenn ich trotzdem nach Algeciras ging, 50 war es, 
weil es mir nützlich erschien, den Beweis zu erbringen, daß auch eine sehr 
schwierige, recht verwickelte, ernste und gefährliche Differenz, wie es der 
Streit um Marokko zweifellos war, sich in friedlicher Beratung, ohne 
Krieg, am Konferenztisch beilegen ließe. Hätten nicht neun Jahre später, 
im Unglückssommer 1914, die diplomatischen Leiter aller Großmächte den 
Kopf verloren, die deutschen, Gott sei es geklagt, noch mehr als die anderen, 
und wäre in der zweiten Julihälfte 1914 eine Konferenz der Großmächte zur 
Schlichtung des serbisch-österreichischen Konflikts zusammengetreten, so 
hätte sich die entsetzlichste Katastrophe vermeiden lassen, welche die Welt 
seit Jahrhunderten sah. 
Auf Vorschlag des deutschen Delegierten wählte die Konferenz von 
Algeciras den spanischen Vertreter, den Herzog Almodovar, zum Vor- 
sitzenden. Als unsere Vertreter hatte ich Seiner Majestät unseren Bot- 
schafter in Madrid, Herrn von Radowitz, und unseren Gesandten in 
Marokko, den Grafen Tattenbach, vorgeschlagen. Radowitz gehörte zu 
denjenigen Staatsmännern, von denen Thiers zu sagen pflegte, daß sie eine 
große Zukunft hinter sich hätten. Als er dreißig Jahre alt war, sah man in 
dem glänzend begabten, schnell und gut redigierenden, viel und geistreich 
sprechenden, in jeder Richtung brillanten Diplomaten den „rising man of 
Germany“, den kommenden Mann. Von meinem Vater schr geschätzt, 
wurde Radowitz vielleicht gerade deshalb von Holstein angefeindet. 
Während des Berliner Kongresses, dessen Sekretariat Radowitz vorstand, 
wurde er von Holstein beim Fürsten Bismarck angeschwärzt. Er gehört in 
die lange Reihe der Opfer Holsteinschen Mißtrauens und Holsteinscher 
Verfolgungsmanie. Schließlich war Radowitz doch noch in verhältnismäßig 
jungen Jahren, 1882, Botschafter in Konstantinopel geworden. Aber sein 
früher Nimbus war schon verblaßt, und eine der bedeutendsten Frauen, 
denen ich begegnet bin, Cosima Wagner, meinte damals von ihm, als er sie 
in Bayreuth besucht hatte: „I n’a pas assez d’esprit pour celui qu’il veut
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.