Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

208 KAISERLICHE NEUJAHRSREDE IM ZEUGCHAUS 
im Lichthof des Zeughauses an die versammelten Offiziere eine aufgeregte 
Rede gehalten, in der er sich über die europäische Lage sehr pessimistisch 
geäußert hätte. Die Börse quittierte diese Nachricht mit einer Baisse. Aus 
der Umgebung Seiner Majestät wurde mir vertraulich gemeldet, daß der 
Kaiser, anknüpfend an die hundertjährige Erinnerung des Jahres 1806, 
unter anderem ausgeführt hätte: Er habe einen trefflichen Reichskanzler, 
den er schätze und liebe, der aber den Wagen bisweilen zu nah am Graben 
fahre. Als ich mich in unbefangenem Tone beim Kaiser erkundigte, was er 
im Zeughaus gesagt hätte, übersandte er mir den Text seiner Rede, die wohl 
nachträglich von ihm etwas zurechtgestutzt worden war, aber jedenfalls 
nichts Bedenkliches enthielt. Sie war im Stil der meisten kaiserlichen Kund- 
gebungen gehalten. Das Wort „oberster Kriegsherr‘‘ kam fünfmal vor. 
Als Zweck der Ausbildung des Heeres wurde bezeichnet, daß die Armee das 
„unüberwindliche Werkzeug Seiner Majestät‘‘ sein müsse. Alle Anstren- 
gungen des Offizierkorps wären darauf zu richten, „das Heer perfekt für 
seinen König zu machen“, dessen Lob und Zufriedenheit der schönste Lohn 
für die Armee wäre. 
Die Aufforderung, zur alten preußischen Sparsamkeit zurückzukehren, 
den Luxus zu fliehen, altbewährte Einfachheit der Sitten unserer 
Väter wieder einzuführen, sich selbst zu überwinden, war durchaus 
berechtigt, nur hätte der Kaiser selbst in dieser Richtung mit gutem Bei- 
spiel vorangehen sollen, wovon leider nicht viel zu merken war. Die Mah- 
nung, daß der Offizier nicht nur für seinen Kriegsherrn sterben müsse, son- 
dern auch ein anderes Leben zu führen habe „als der gewöhnliche Sterb- 
liche“, daß der ÖOffiziersstand „in seiner Abgeschlossenheit‘“ strengeren 
Anschauungen huldigen müsse als der Bürger, entsprach einer schönen 
und bewährten preußischen Tradition, wurde aber von Wilhelm II. nach 
außen schärfer und lauter akzentuiert als von Friedrich dem Großen oder 
Wilhelm I. 
Es freute mich, dem Kaiser, der dem Gang der Beratungen und Verhand- 
lungen in Algeciras mit übertriebener Besorgnis entgegensah, bald nach der 
Eröffnung der Konferenz schreiben zu können, daß der aus London zurück- 
gekehrte englische Botschafter Lascelles mir vertraulich die Überzeugung 
ausgedrückt habe, eine Besserung der deutsch-englischen Beziehungen 
wäre unter der neuen liberalen englischen Regierung nach Abwicklung der 
Marokko-Frage nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Sei die Marokko- 
Frage erst einmal erledigt und damit eine Detente in den deutsch-französi- 
schen Beziehungen eingetreten, so würde die neue englische Regierung in der 
Öffentlichkeit uns gegenüber freundlichere Saiten aufziehen. Ein liberales 
englisches Ministerium, namentlich wenn es von einer starken parlamenta- 
rischen Mehrheit getragen werde, könne uns gegenüber eine andere Politik
	        
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