Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

SEIN ABSCHIEDSGESUCH 215 
Tschirschky hatte sich als Botschaftsrat des Fürsten Radolin in St. Peters- 
burg sehr mit diesem angefreundet. Namentlich hatte sich Frau von 
Tschirschky in der Rolle einer Suivante der Fürstin Radolin gefallen. 
Holstein, der intime Freund des Ehepaars Radolin, glaubte deshalb 
Tschirschkys völlig sicher zu sein. Diese Hoffnung scheiterte an der im 
Auswärtigen Amt berühmten Verbindungstür zwischen dem Zimmer des 
Staatssekretärs und dem des Geheimen Rats von Holstein, durch die der 
letztere bei jedem Anlaß, unangemeldet, hinter dem Rücken seines Chefs 
einzutreten pflegte. Marschall hatte sich das gefallen lassen. Da ich Zeit 
meines Lebens gute Nerven gehabt habe, hatte es mich auch nicht weiter 
gestört. Tschirschky schloß die Tür ab, da seine Nerven die fortgesetzte 
Bedrohung, den finsteren Holstein unvermutet hinter sich zu fühlen, nicht 
ertrugen. Als Holstein, durch diesen Ab- und Ausschluß schon gereizt, 
das Zimmer des Staatssekretärs durch die Korridortür betrat, mit einem 
großen Stoß Akten unter dem Arm, forderte ihn Tschirschky kühl und 
trocken auf, die Akten auf den Tisch zu legen und zu warten, bis er gerufen 
würde. Bei der Verzogenheit und Reizbarkeit von Holstein bedeutete dies 
den Bruch. Er reichte sofort seinen Abschied ein, war aber überzeugt, daß 
ich die Annahme desselben verhindern würde. Während einiger Tage er- 
neuerte er fortgesetzt sein Abschiedsgesuch in an mich gerichteten Briefen, 
in denen er einen elegischen, fast weltschmerzlichen Ton anschlug. Er wolle 
mir keine Schwierigkeiten bereiten und sehne sich nach Ruhe und Stille. 
Macchiavelli erzählt in seinem „Principe“, Cesare Borgia habe ihm gesagt, 
er und sein Vater, der kluge Papst Alexander VI., hätten alle Möglichkeiten 
der Zukunft erwogen, nur die eine nicht, daß sie gleichzeitig sterben oder 
wenigstens schwer erkranken würden. Nun trat aber gerade dieser Fall ein. 
Alexander VI. wünschte sich einiger ihm unbequemer Kardinäle zu ent- 
ledigen. Zu diesem Zweck lud er sie zu einem Gastmahl ein, bei dem den 
Betreffenden vergiftete Speisen vorgesetzt werden sollten. Durch ein un- 
liebsames Versehen verwechselten die Diener die Teller, und die gefähr- 
lichen Gerichte wurden dem Papst und seinem Sohn gereicht. Der Papst 
selbst starb in der folgenden Nacht, die Riesennatur des Sohnes überwand 
das Gift, aber er blieb mehrere Wochen an das Bett gefesselt. Inzwischen 
empörten sich die von ihm eroberten Städte und Schlösser der Romagna, 
und die Herrschaft des Hauses Borgia brach zusammen. So hatte auch 
Fritz von Holstein vieles wohl berechnet, aber nicht an den Fall gedacht, 
daß ich gerade in dem Augenblick erkranken und auf Grund ärztlicher An- 
ordnung für Rücksprachen und Akten unerreichbar werden könnte, in dem 
sein Abschiedsgesuch sich in den Händen des mit ihm verfeindeten Staats- 
sekretärs Tschirschky befinden würde. Tschirschky benutzte die günstige 
Gelegenheit, um Holstein kaltblütig abzuwürgen.
	        
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