222 FERN DER ZENTRALE
Zukunft wird ja einmal eintreten, aber nicht mehr für mich. Sie sollten
aber, sehr geehrter Herr Renvers, zusammen mit Bülow eine hygienische
Reform für die oberen Zehntausend dadurch herbeiführen, daß es polizei-
lich verboten würde, später als um 7 Uhr zum Diner einzuladen.“ Die
letztere Bemerkung war zutreffend. Die Unsitte später, lange dauernder
und allzu reichlicher Diners war eine Kalamität, unter der die Börse der
weniger bemittelten Staatsbeamten und die Gesundheit aller litten. Unter
den gesundheitsschädlichen Folgen der Berliner Diners litt ich weniger als
die meisten meiner Kollegen, da ich mir seit meiner Ernennung zum Mi-
nister eine strenge Diät auferlegt, Tabak, Kaffee, Bier und Liköre von einem
Tage zum anderen ganz abgewöhnt und den Weingenuß auf eine halbe
Flasche Rotwein am Abend eingeschränkt hatte. Ich verband diese Diät
mit täglichem, fünfunddreißig Minuten langem, strammem Turnen nach der
bewährten Methode des biederen Dr. Schreber in Leipzig (Ärztliche Zimmer-
gymnastik, Leipzig, Friedrich Fleischer). Insbesondere die von Schreber
angeratene Übung Nr. 33 (Niederlassen bei festgeschlossenen Fersen, auf
den Fußspitzen und mit senkrecht erhaltenem Rumpf) nehme ich bis in
mein Greisenalter jeden Morgen 25 mal vor. Diese Lebensweise, verbunden
mit täglichem Reiten bei guter Jahreszeit und einem mehrstündigen Fuß-
marsch am Sonntag nachmittag hat mich nach menschlicher Berechnung
vor dem Schicksal von Herbert Bismarck, Marschall, Richthofen, Kiderlen
und manchen anderen bewahrt, die vor der Zeit aus dem Leben schieden
pour avoir brüle la chandelle par les deux bouts. Nicht umsonst mahnte
Juvenal, der im sinkenden Rom reichliche Gelegenheit gehabt haben dürfte,
die Wichtigkeit einer verständigen Hygiene zu studieren:
Mens sana in corpore sano.
Das soll natürlich nicht heißen, daß nicht auch in einem gebrechlichen
Leibe eine feurige Seele und ein starker Wille leben können. Aber für Staats-
diener wie für Staatslenker wird im allgemeinen die Sanitas des Körpers
eine Garantie für das Gleichgewicht der Seele wie für gute Nerven sein. Ich
habe mir oft den Gedanken durch den Kopf gehen lassen, ob sich die vor-
treffliche Einrichtung des englischen Weekend nicht bei uns einbürgern
ließe. Aber meine Anregungen scheiterten teils an der unübertrefflichen
Gewissenhaftigkeit und Arbeitsfreudigkeit des deutschen Beamten unter
dem alten Regime, der mit dem großen jonischen Maler, mit Apelles aus
Kolophon, dem Grundsatz des „Nulla dies sine linea“ huldigte, teils auch
an der in Deutschland traditionellen Überschätzung der „Schreibe“, an
unserer Schreibewut.
Es liegt in der Natur der Dinge, daß der an der Zentralstelle mit Arbeit
überhäufte, fortgesetzt in Anspruch genommene, oft gestörte Minister