228 DER TRADITIONSGEIST
richtenden Agitationen, keine hoch- oder auch nur rein-politischen Argu-
mente, überhaupt keinen unnötigen Lärm. Von der eventuellen Forderung
muß vorher und namentlich jetzt unmittelbar nach Annahme der Finanz-
vorlage im Reich möglichst wenig die Rede sein, sonst setzt die Gegen-
agitation ein. Die Forderung muß seinerzeit so ruhig als nur irgend möglich
vertreten werden, mit technischen Argumenten. Ich bemerke noch aus-
drücklich, daß Seine Majestät der Kaiser von diesem Brief nichts weiß.“
Abschrift des vorstehenden Schreibens ließ ich dem Generalstabschef von
Moltke zugehen, dem gegenüber ich mich schon wiederholt mündlich im
gleichen Sinne ausgesprochen hatte.
Meine Mahnungen und Warnungen waren nicht allein durch die krampf-
haften militärischen Anstrengungen namentlich der Franzosen hervor-
gerufen. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß-die Bedeutung
der Technik in unserem Heer unterschätzt würde. Solche Denkweise hatte
1870 bei Mars-la-Tour und Saint-Privat Offizieren und Mannschaften der
preußischen Garde Gelegenheit geboten, einen persönlichen Heldenmut zu
betätigen, wie ihn die Welt seit Leutben und Möckern nicht mehr gesehen
hatte, aber auch zu schweren, in diesem Umfange nicht erforderlichen Ver-
lusten geführt. Übertriebener Konservativismus, allzu strenges Festhalten
an alter Tradition, Abneigung und Mißtrauen gegen alles Neue verhinderten
während der auf zwei siegreiche Kriege folgenden, fast halbhundertjährigen
Friedensperiode, daß aus den Erfahrungen von 1870 die richtigen Lehren
gezogen wurden, obschon Graf Alfred Schlieffen mit der Feder und mit dem
Wort dazu angeregt hatte. Auf seinen Manövern hatte Wilhelm II. nur zu
oft Gefechtsbilder vorgeführt, die auf Verkennung der Grenzen beruhten,
welche die moderne Waffenwirkung dem Vorgehen nicht allein der Ka-
vallerie, sondern auch der Infanterie zieht. Der Mangel an technischem
Verständnis und Empfinden zeigte sich auch auf artilleristischem Gebiet,
nicht nur in unserer Artillerietaktik, sondern auch in der Anschauungsweise
dieser Waffe, die sie einerseits zu einer Überschätzung des Furor Teutonicus
verführte, andererseits zu unzutreffender Einschätzung der Bedeutung der
technischen Leistungsfähigkeit wie des großen Unterschieds zwischen
Manöverbildern und kriegsmäßigen Verhältnissen. In keinem anderen
Heer herrschte ein so schöner kameradschaftlicher Geist wie in der deut-
schen Armee. Es fehlte aber auch nicht an schädlichen Vorurteilen. Die
Kavallerie galt manchen für die eleganteste Waffe, für die ritterliche Waffe
par excellence, die Infanterie für die entscheidende, dann erst kam für viele
die Artillerie, aus der doch ein Napoleon hervorgegangen war. Die eigent-
lich technischen Truppen wurden in einen für sie nicht schmeichelhaften
Gegensatz zu den „kämpfenden Truppen“ gebracht, die hohe Wichtigkeit
des Trains nicht nach Verdienst gewürdigt, und die Militärtechnische