PRIVATISSIMUM FÜR DEN KAISER 239
Trieben neuerdings wieder allzuschr die Zügel schießen ließ, ein historisch-
politisches Privatissimum zu lesen. Noch ein anderer Vorfall hatte mir zu
denken gegeben. Bei dem gnädigen Besuch, mit dem mich Wilhelm II. in
Norderney beehrt hatte, war mir in der langen Unterredung, die Seine
Majestät mit mir führte, eine Äußerung besonders aufgefallen. Als ich den
Mut und die Einsicht des neuen russischen Ministerpräsidenten Stolypin
wie des eben zurückgetretenen Finanzministers Witte rühmte, die zwar die
Revolution bekämpften, aber nicht die Rückkehr zum alten autokratischen
System wollten, hatte der Kaiser nach kurzem Nachdenken gemeint: „Ja,
gewiß, Stolypin und Witte sind klug und schneidig, aber mir scheint, daß
sie doch mehr an Rußland denken als an den Zaren, ihren Herrn.“ Ich
benutzte für meine Admonition die günstige Gelegenheit, die mir das
Glückwunschschreiben bot, das ich anläßlich der Entbindung der Kron-
prinzessin, am 17. Juli 1906, an Seine Majestät richtete.
In diesem Briefe riet ich zunächst Seiner Majestät, anläßlich der Taufe
des Prinzen-Enkels in einer würdigen Kabinettsorder, wie sie Lucanus aus-
zuarbeiten verstehe, dem deutschen Volk seinen Dank für den Anteil ab-
zustatten, den alle Kreise an diesem erfreulichen Ereignis genommen
hätten. Ich schlug vor, der Gesellschaft für die Bekämpfung der Säuglings-
sterblichkeit, welche die Gründung eines Säuglingskrankenhauses betreibe,
mit dem auch eine Forschungsstätte für Säuglingserkrankungen verbunden
werden solle, eine möglichst große Spende zukommen zu lassen. Ich empfahl
weiter, den König Eduard um die Annahme einer Patenstelle bei dem Erst-
geborenen des Kronprinzen zu bitten. Der König, der wie alle Koburger
einen ausgeprägten Familiensinn besitze, werde gern annehmen. „Les
petits cadeaux entretiennent l’amitie.““ Ich regte auch an, dem Präsidenten
der Vereinigten Staaten eine Patenstelle anzubieten. In der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts hätten bei der Taufe von preußischen Prinzen und,
wie ich glaubte, speziell bei der Taufe Friedrichs des Großen, der Schult-
heiß von Bern und die Niederländischen Generalstaaten Paten gestanden.
In dem bedeutungsvolleren Teil meiner Ausführungen ging ich von der
Lage der Dinge in Rußland aus. Die dortige Situation sei sehr ernst. Wir
stünden vor dem Zusammenbruch des russischen autokratischen Systems,
das während fast eines Jahrhunderts der Abscheu und nicht selten der
Schrecken des demokratischen, andererseits die Hoffnung und bisweilen
die Stütze des konservativen und monarchischen Europas gewesen wäre.
Dieses System habe dem slawisch-tatarischen, dem asiatischen Kern des
russischen Wesens entsprochen, dem germanischen Empfinden wäre es
immer fremd geblieben. Der Germane sei individualistisch und freiheits-
liebend. Als die germanischen Völker auf der Weltbühne erschienen wären,
hätten sie Begriffe von Freiheit und Gleichheit gebabt, die an die heutigen