DIE EINKREISUNGSPOLITIK 263
meines Amts befreien wollte, aber nicht glaube, daß er hierzu Lust habe.
Am nächsten Morgen brachte eine Berliner Zeitung, wenn ich nicht irre
das „Berliner Tageblatt‘, ohne direktes oder indirektes Zutun von meiner
Seite, die Nachricht, daß intrigiert würde, um Moltke an meine Stelle zu
bringen. Schon am Nachmittag desselben Tages erschien Moltke bei mir
und sagte mir mit der Offenheit, die seinem vornehmen Wesen entsprach,
daß ihn die in Rede stehenden Gerüchte und Klatschereien auf das pein-
lichste berührt hätten. Er dächte nicht daran, den Reichskanzlerposten zu
erstreben, dem er sich in keiner Weise gewachsen fühle. Ich erwiderte ihm
in voller Aufrichtigkeit, daß ich niemals weder an seiner Loyalität noch an
seiner Freundschaft für mich gezweifelt hätte. Ich bin auch heute fest
überzeugt, daß dieser unglückliche, aber durch und durch edle Mann mir
damals wie immer die Wahrheit sagte. Im Hinblick auf die schwüle inner-
politische Lage aber war ich zufrieden, als mit dem Wiederbeginn der
parlamentarischen Diskussionen ein frischer Luftstrom in die Stickluft der
höfischen Intrigen und Salonklatschereien fuhr.
Als ich mich am 14. November zu Fuß aus dem Reichskanzlerpalais
nach dem Reichstag begab, begegnete ich am Brandenburger Tor meinem
lieben Freund und ärztlichen Berater Renvers, der tat, als ob er dort zu-
fällig hingekommen wäre. Er begleitete mich bis zum Eingangsportal des
Reichstagsgebäudes. Dort befühlte er meinen Puls, dann meinte er: „Ihr
Puls kann gar nicht ruhiger sein. Nun gehen Sie los!“ Ich hielt am 14. No-
vember 1906 in Beantwortung einer von dem Abgeordneten Bassermann
eingebrachten Interpellation über unsere auswärtige Lage eine der längsten
Reden meiner Amtszeit*. Ich sprach ganz frei, ohne einen Zettel vor mir,
ohne Manuskript. Ich beleuchtete zunächst unsere Beziehungen zu Frank-
reich, über dessen Unversöhnlichkeit wir uns gerade im Hinblick auf die
traditionellen und glänzenden Eigenschaften unserer temperamentvollen
Nachbarn, auf ihren lebhaften Patriotismus, ihren hochgespannten und
starken Ehrgeiz keine Illusionen machen dürften. Auf den Zwischenruf der
Sozialisten: „Jaures!“ erwiderte ich: „Eine Schwalbe macht noch keinen
Sommer, selbst wenn sie eine rote Schwalbe ist.‘““ Gegenüber der Entente
cordiale wies ich mit Ernst darauf hin, daß eine Politik, die darauf gerichtet
wäre, Deutschland einzukreisen, einen Kreis von Mächten um uns zu bil-
den, um uns zu isolieren und lahmzulegen, eine für den Frieden in Europa
bedenkliche Pulitik sein würde. Gegenüber England hob ich mit großem
Nachdruck hervor, daß wir nicht daran dächten, eine Flotte zu schaffen,
die so stark wie die englische wäre. Wir hätten aber das Recht und die
Pflicht, eine der Größe unserer Handelsinteressen entsprechende Flotte zu
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe II, 306; Reclam-Ausgabe IV, 108.
Reichstagsrede
über die aus-
wärtige Politik