268 DIE „EITERBEULE“
Kolonialabteilung als „grünen Assessor‘‘ und schloß unter großer Bewe-
gung des Hauses und andauerndem Lärm mit den Worten: „Ach, Herr
Kolonialdirektor, nach Ihrer ganzen Vergangenheit sind Sie nicht fähig,
mich bloßzustellen.“ Wir haben seit der Revolution und unter der Republik
in deutschen Volks- und Stadtvertretungen noch ganz andere Szenen
erlebt, aber damals wurde nicht nur vom Reichstag und von den Zuschauern
auf den Tribünen, sondern von allen Gebildeten im Lande ein so roher Ton
mißbilligt und peinlich empfunden. In seiner Antwort wies der Kolonial-
direktor nach, daß die Kolonialverwaltung keinen Tadel verdiene, daß die
gegen die Beamten erhobenen Vorwürfe unbegründet wären, daß aber
Roeren und andere Zentrumsabgeordnete im Interesse von Parteiange-
hörigen oder sonstigen Schützlingen sich fortgesetzt in die Personalien der
Kolonialverwaltung eingemischt hätten. Diese Anspielung bezog sich, wie
ich einschalten will, darauf, daß es Erzberger durch die Pflichtvergessen-
heit zweier Subalterobeamten namens Wistuba und Pöplau möglich ge-
worden war, sich Kenntnis über interne Vorgänge innerhalb der Kolonial-
verwaltung zu verschaffen, die er dann in illoyaler Weise als Angriffs-
material verwandte. Als Dernburg mit den Worten schloß, daß diese Eiter-
beule aufgestochen werden mußte, daß er sie aufgestochen habe und gern
die Konsequenzen trage, zischten Zentrum und Sozialdemokratie, aber
auf der Rechten erscholl lebhafter Beifall und auf den Tribünen Hände-
klatschen. Ich hatte der Sitzung vom 3. Dezember wegen anderweitiger
dringender Amtsgeschäfte nicht beiwohnen können, erschien aber am
4. Dezember im Reichstag, um in einer kurzen, ganz sachlichen Rede keinen
Zweifel darüber zu lassen, daß ich die Haltung des Kolonialdirektors und
insbesondere seine Verteidigung grundlos angegriffener Beamten wie seine
Abwehr ungerechtfertigter Pressionen selbstverständlich billige. Ich schloß
mit der Bemerkung, ich würde gewünscht haben, daß Herr Roeren weniger
dem Beispiel des wie immer allzu heftigen Abgeordneten Bebel als dem
seines Fraktionskollegen Erzberger gefolgt wäre, der sich einer ruhigeren
Tonart befleißigt habe über Vorgänge, deren Untersuchung zum Teil noch
im Gange sei.
Ich glaubte noch immer nicht, daß das Zentrum es zum Bruch treiben
würde, den ich zu vermeiden wünschte. Ich ließ die zwei einflußreichsten
Führer des Zentrums, Herrn Spahn und Herrn Groeber, zu mir bitten. In
einer längeren Unterredung ä trois erinnerte ich sie an meine gerechte
und wohlwollende Haltung gegenüber der Zentrumspartei wie gegenüber
dem katholischen Teil des deutschen Volks seit fast einem Jahrzehnt. Ich
würde nie den Rechten und den Gefühlen der Katholiken und der katho-
lischen Kirche zunahetreten. Aber wo es sich um staatliche Interessen und
um die Grundsätze handele, auf denen unser Staatswesen beruhe, ließe ich