DEBATTE MIT BEBEL 9
in seine Niederungen hinabziehen. Selbst die größte Gabe des Deutschen,
sein Organisationstalent, hat unendlich viel zum Aufschwung der deutschen
Soziallemokratie beigetragen, aber auch gleichzeitig zu ihrer Erstarrung.
Sidney Sonnino sagte mir einmal im Winter 1914 auf 1915: „Gewiß be-
wundere ich die Fähigkeit des Deutschen im Organisieren. Aber so unbe-
schränkt, wie sie bei Ihnen waltet, führt sie zur Arteriosklerose, zur geistigen
Verkalkung.“ Ähnlich meinte während des Weltkrieges Ballour: die Deut-
schen hätten ein für die Welt gefährliches Talent zum Organisieren, aber
vielleicht gerade deshalb wären sie keine Psychologen.
Während meines Rededuells mit Bebel am 10., 14. und 15. Dezember
1903* setzte ich mich mit Programm und Weltanschauung der deutschen
Sozialdemokratie auseinander. Ich hatte vielleicht gerade deshalb Erfolg,
weil ich, bis auf einige positive Mitteilungen über Skandalosa in der Garni-
son Forbaclı und über die Erhebung von Abgaben auf den Wasserstraßen,
unvorbereitet sprach. Als ich die von Bebel auf dem Dresdener Sozial-
demokratischen Parteitag gezeigte Unduldsamkeit geißelte, fand ich bis
weit in Jdie Linke hinein Verständnis. Die revisionistischen Sozialisten
schmunzelten stillvergnügt. Als ich der Sozialdemokratie für Disziplin und
Opferireudigkeit die Zensur la, für positive Leistungen und Klarheit des
Programms die Zensur V b erteilte, sagte ich leider nur zu sehr die Zukunft
voraus. Man hat mich oft gefragt, woher das von mir Bebel zugerufene Zitat
stamme: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den
Schädel ein.“ Ich wußte es damals nicht und weiß es auch heute noch nicht.
Da das Verschen mir im Laufe meiner Rede einfiel, so möchte ich annehmen,
daß ich es schon in meiner ersten Jugend in Frankfurt a. M., Sachsenhausen
oder Bonames habe singen hören, wo damals noch mancherlei Remini-
szenzen an das Jahr 1848 lebendig waren.
Die sehr gescheite Nichte des Fürsten Bismarck, die Tochter seiner
geliebten Malle, Frau von Kotze, geborene von Arnim-Kröchlendorff,
schrieb mir: „In meinem Bismarckschen Blute steckt die glühende Liebe
zum Vaterland, und diese hat aufgejubelt bei Ihrer Rede. Eine solche ist
seit Bismarcks Zeiten im Reichstag nicht gehalten worden. Da lacht einem
das Herz im Leibe, wenn der Führer der Nation so tapfere, klare, scharfe
Kampfesworte findet. Worte, die nicht nur Worte sind, sondern eine Tat.
Sie richten das Vertrauen zu Ihnen auf und beleben die Überzeugung, daß
vielleicht manches anders wäre, wenn sich Ihrem Wollen nicht oft unüber-
windliche Hivdernisse entgegentürmten. Jeder Patriot muß den brennenden
Wunsch hegen, Sie noch lange Jahre an der Spitze unserer Regierung zu
sehen. Daß diesen Wunsch jemand ausspricht, der so wie ich über beide
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe II, S. 1 £.; Kleine Ausgabe III, S. 10 ff.