DIE WAHLPAROLE 277
die Parteien zwang, das nationale Interesse über ihre selbstsüchtigen
Zwecke zu setzen.
In meinem Silvesterbrief an den Vorsitzenden des Reichsverbands gegen
die Sozialdemokratie, den General von Liebert, gab ich als Parole für den
Wahlkampf aus: Für Ehre und Gut der Nation, gegen Sozialdemokraten,
Polen, Welfen und Zentrum. Ich gab mit vollem Bewußtsein dem Kampf
die Spitze gegen die Sozialdemokratie. Ich verkannte nicht, daß auch in
den Reihen dieser Partei redliche und tüchtige Männer, edle Idealisten
standen, daß in ihren Bestrebungen ein guter und berechtigter Kern stak.
Aber ich wußte auch, daß es bei der doktrinären Verbohrtheit, der fanati-
schen und verbissenen Parteiwut gerade der deutschen Sozialdemokratie,
daß es vor allem bei der weltfremden Art, mit der sie im Gegensatz zu den
Sozialdemokraten anderer Länder Fragen der auswärtigen Politik lediglich
vom Standpunkt des Fraktionsinteresses beurteilte, überdies sich über das
Ausland und die ausländischen „Genossen“ in den größten Illusionen be-
wegte, ein schweres Unglück bedeuten würde, wenn sie die Zügel der Macht
an sich risse. Ich habe nie daran gezweifelt, daß die deutsche Sozialdemo-
kratie nicht imstande sein, auch gar nicht ernstlich versuchen würde, die
Ideen von Marx praktisch durchzufüren. Aber ich sah voraus, daß sie,
ans Ruder gelangt, die Verwaltung desorganisieren, die öffentliche Sicherheit
gefährden, alle schlechten Leidenschaften entfesseln, alle ungesunden
Appetite wecken, daß sie die „Klassenjustiz“, gegen die sie, als eine solche
nicht bestand, gezetert und getobt hatte, selbst zur Befestigung der eigenen
Herrschaft verlangen und anstreben, daß sie vor allem dem Auslande
gegenüber weder das nötige Rückgrat noch ein klares Auge haben würde.
Am 19. Januar 1907 hielt ich im Palast-Hotel bei einem Abendessen,
an dem außer einer großen Anzahl Vertreter der Minderheitsparteien vom
13. Dezember auch zahlreiche Industrielle, Gelehrte, Künstler, Bankiers
teilnahmen, vor einer Versammlung, die, wie ich sagte, wirklich ein Kreis
hoher Bildung und höchsten Strebens war, eine Rede, in der ich unter Hin-
weis auf das Goethesche Wort: „Was ist deine Pflicht? Die Forderung des
Tages“, für die Wahlen die Parole ausgab: Ein Reichstag, dessen Mehrheit
in nationalen Fragen nicht versagt — das ist die Forderung des Tages!
Zwei Tage später erklärte der Führer der Sozialdemokratie, der Abgeordnete
Singer, einem Vertreter der ausgesprochen deutschfeindlichen imperialisti-
schen „Daily Mail“, die deutsche Sozialdemokratie gehe dem heißesten
Kampf ihrer Geschichte mit vollem Vertrauen entgegen. Sie werde ihre
Fraktionsstärke von 79 auf mindestens 90 Köpfe erhöhen. Am Abend des
25. Januar, des Wahltags, traf gegen 10 Uhr das erste Telegramm bei mir
ein. Es meldete mir, daß in meinem Heimatskreis Pinneberg der Frei-
sinnige Carstens den bisherigen sozialistischen Vertreter geschlagen hätte.