326 BEDROHUNG NOCH NICHT UNMITTELBAR
stellenden Fall eines Krieges die trotz der inneren Zersetzung Österreichs
noch immer tüchtige und starke k. und k. Armee auf unserer Seite hatten,
uns aber andererseits von Österreich nicht gegen unseren Willen in einen
Weltkrieg hineinziehen ließen. Ich richtete deshalb am 25. Juli 1908, bald
nach der Begegnung von Reval, an die königlich preußischen Missionen in
München, Dresden, Stuttgart, Karlsruhe, Darmstadt, Hamburg, Weimar
und Oldenburg einen Zirkularerlaß, in dem ich ausführte, daß die durch
die Revaler Begegnung hervorgerufene Situation ernst sei, daß aber kein
Anlaß wäre, den Kopf zu verlieren. Wir hätten überwiegende Gründe,
„bis auf weiteres“ der Annahme zuzuneigen, daß in Reval keine „direkt“
feindseligen Pläne gegen den Dreibund und Deutschland gefaßt worden
wären. Wir stützten diese Annahme nicht nur auf die allgemeine politische
Lage, die in Reval gewechselten und veröffentlichten Tischreden, sondern
auch auf die von der russischen wie von der englischen Regierung uns und
anderwärts abgegebenen bestimmten Erklärungen, endlich auch auf ein in
Potsdam am 11. Juni, also unmittelbar nach der Begegnung, eingetroffenes
direktes Telegramm des Kaisers von Rußland an den Deutschen Kaiser,
daß die Begegnung an der politischen Lage „absolut nichts“ geändert habe.
Der russische Minister des Äußern habe dem kaiserlichen Botschafter in
St. Petersburg erklärt, daß in Reval über andere Fragen als die durch
das vorjährige englisch-russische Abkommen behandelten keinerlei Ver-
einbarungen getroffen worden wären, insbesondere nicht über die all-
gemeine Politik. Am allerwenigsten sei etwas vereinbart oder auch nur
besprochen worden, das sich irgendwie gegen Deutschland richten könne.
Einige Zeit später habe Iswolski durch seinen politischen Vertrauensmann,
den Abteilungschef Baron Taube, erneut mündlich in Berlin versichern
lassen, daß die Revaler Begegnung in den deutsch-russischen Beziehungen
absolut nichts ändern werde. In sachlich gleicher Art wie der russische
Minister habe sich Sir Edward Grey in London gegenüber unserem Bot-
sChafter Metternich dahin ausgelassen, daß in Reval nichts gegen Deutsch-
land verabredet oder geplant worden sei.
In meinem Zirkularerlaß hieß es weiter: „Sind wir nach alledem nicht
veranlaßt, der Revaler Begegnung auch im Zusammenhang mit den ihr
vorausgegangenen Entrevuen und Ententen zunächst nicht den Cha-
rakter einer unmittelbaren Bedrohung für uns und Österreich-Ungarn bei-
zulegen, so würde es doch ein verhängnisvoller Fehler sein, wollten wir
etwa, im Vertrauen auf die uns abgegebenen Versicherungen verkennen,
daß durch diese Vorgänge unsere politische Bewegungsfreiheit unter Um-
ständen beeinträchtigt werden könnte. Wir haben damit zu rechnen,
daß, wenn wir oder Österreich-Ungarn mit einer der Entente-
mächte in einen ernsteren Interessenkonflikt geraten sollten,