Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

386 DER LAKAI DER KAISERIN 
langweilig und deshalb wirkungslos. Während die Worte von seinen Lippen 
fielen wie die Tropfen eines stillen Landregens, verließ ich das Parlament. 
Als ich in der Richtung vom Reichstag nach dem Großen Stern ging, um 
mir die Beine zu vertreten und mich ein wenig zu erfrischen, näherte sich 
mir ein Herr, den ich als einen königlichen Lakaien erkannte, obwohl er in 
Zivil, nicht in Livree war. Er übergab mir einen Brief. Ich erkannte auf 
der Adresse des Kuverts sofort die Handschrift der Kaiserin. Das Billett 
enthielt nur die wenigen Worte: „Ich möchte Sie sprechen. Alles Weitere 
durch den Überbringer. V.“ Wir gingen nun zusammen weiter. Wenige 
Minuten später hielt mein Begleiter eine verschlossene Droschke an, mit der 
wir zum Potsdamer Bahnhof gelangten, von wo wir mit der Wannseebahn 
nach Potsdam fuhren. Wir benützten, um unerkannt zu bleiben, ein Abteil 
zweiter Klasse. Von Potsdam aus fuhren wir wieder in einer verschlossenen 
Droschke bis in die Nähe des Neuen Palais. Ihre Majestät die Kaiserin 
empfing mich im Erdgeschoß. Sie hatte rotgeweinte Augen, aber ihre Hal- 
tung war durchaus königlich. Sie frug mich sofort: „Muß denn der Kaiser 
abdanken? Wollen Sie, daß er abdankt ?“ Ich entgegnete ohne einen 
Augenblick der Besinnung mit größter Bestimmtheit, daß mir jeder solche 
Gedanke fernliege und daß ich die Abdankung auch in keiner Weise für 
notwendig hielte. Die Kaiserin setzte sich und bat mich, auch Platz zu 
nehmen. Sie erzählte mir, daß der Kaiser einen „Nervenschock“ erlitten 
habe, einen „Kollaps“. Das wäre schon früher dagewesen nach starken Er- 
regungen, z. B. nach seiner mißglückten Rede an die Brandenburger 
Herren, auch nach der Swinemünder Depesche an den Prinzregenten von 
Bayern. Diesmal sei es aber viel ärger. Der Kaiser habe sich zu Bett legen 
müssen, mit Schüttelfrost und Weinkrämpfen. 
Ich setzte nun der Kaiserin die Lage auseinander. Ich brauchte ihr nicht 
die Gründe darzulegen, die zu der heftigen Erregung der öffentlichen 
Meinung geführt hatten, denn obwohl in felsenfester Treue und grenzen- 
loser Liebe ihrem Gemahl ergeben, machte sich die Kaiserin mit ihrem 
feinen Takt und ihrem ausgeprägten Bon sens keine Illusionen über die 
gefährlichen Seiten in der Natur ihres hohen Gemahls. Ich erklärte der 
Kaiserin, und mit voller Überzeugung, ich könne ihr mit bestem Gewissen 
die Versicherung geben, daß der nach meiner Reichstagsrede schon im Ab- 
flauen begriffene Sturm bald vorübergegangen sein werde. Ich würde es zu 
keinerlei Verkürzung der verfassungsmäßigen und traditionellen Rechte der 
preußischen Krone kommen lassen, darauf könne sie sich fest verlassen. 
Der Kaiser müsse freilich endlich ruhiger werden, vorsichtiger und be- 
sonnener im Auftreten, im Reden und Schreiben, in allem seinem Tun. Ich 
würde es für sehr nützlich halten, wenn der Kaiser bei der Feier erschiene, 
die am 21. November, d. h. übermorgen, im Berliner Rathaus stattfände.
	        
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