Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

MÖGLICHKEIT VON BÜLOWS RÜCKTRITT 393 
Möglichkeit meines Rücktritts ernstlich ins Auge fassen. Um so mehr war 
ich bemüht, meinem eventuellen Nachfolger die außen- und innenpolitischen 
Geschäfte in möglichst gutem Stand zu hinterlassen. In der inneren Politik 
wollte ich einerseits Konservative und Liberale zusammenhalten, denn es 
erschien mir bedenklich, die Regierung nur auf die Ritter und auf die 
Heiligen zu stellen. Gleichzeitig aber mußte durch eine gerechte, ver- 
nünftige und entgegenkommende Haltung nicht nur gegenüber der katho- 
lischen Kirche, dem Episkopat und dem Vatikan, sondern auch gegenüber 
dem Fühlen, Glauben und Empfinden des katholischen Teils des deutschen 
Volkes der Zentrumspartei der „aditus ad pacem“ offengehalten werden. In 
der bosnischen Frage mußte die Krise zu einem Abschluß gebracht werden, 
der ohne Schädigung unserer Beziehungen zu Rußland den Fortbestand 
Österreichs sicherte. Eine Verständigung mit England über die Flottenbau- 
frage, namentlich über das Bautentempo, lag mir nicht minder am Herzen. 
Ich kehre zunächst zur bosnischen Frage zurück, die zuletzt Ende 
Oktober 1908 Gegenstand einer längeren Besprechung zwischen Seiner 
Majestät und mir gewesen war. „Wehe denen, die bei sich selbst weise sind 
und halten sich selbst für klug‘, warnt Jesaias, und Paulus empfiehlt der 
jungen Christengemeinde in Rom unter anderen goldenen Lebensregeln: 
„Haltet euch nicht selbst für klug.“ Ob die ersten Leser des Römerbriefs 
diese Lehre beherzigt haben, wissen wir nicht, möchten es aber annehmen. 
Dagegen haben die Könige Usia, Jotham, Ahas und Jehiskia von Juda 
nicht den Rat des größten Propheten des Alten Bundes befolgt. Und das 
bekam ihnen schlecht. Alexander Petrowitsch Iswolski hielt sich selbst für 
sehr klug. Er besaß auch tatsächlich eine gute Portion jener slawischen 
Schlauheit, die namentlich im dreisten Lügen und unbefangenen Fordern 
besteht und durch die sich der redliche Deutsche im Laufe seiner Ge- 
schichte oft hinter das Licht führen ließ, hier und da von den Russen, noch 
häufiger von Tschechen und Serben, am häufigsten von den Polen. Und 
trotz solcher Pfiffigkeit beging Iswolski seit der Begegnung mit Aerenthal 
in Buchlau Fehler auf Fehler, Dummheit über Dummheit. Es war, wie ich 
schon ausführte, ein grober Fehler, daß er am 15. September 1908 Aehren- 
thal in Buchlau nicht ersucht hatte, ihm klipp und klar zu sagen, wann und 
in welcher Form er die Annexion Bosniens und der Herzegowina vorzu- 
nehmen gedenke. Es war ein weiterer und großer Fehler, daß er, als ihn 
Aehrenthal mit der Annexionsproklamation vom 5. Oktober 1908 über- 
raschte, nicht sofort nach St Petersburg zurückkehrte, um dort sowohl 
gegenüber dem Zaren wie in der Duma seine Politik mit offenem Visier 
und mannhaft zu verteidigen. Statt dessen hatte er, ein anderer Odysseus, 
in fast komischer Weise Quer- und Irrfahrten durch die europäischen Haupt- 
städte unternommen. Er war nach Wien erst in London, dann in Paris 
Iswolskis 
Mißerfolg
	        
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