Bülow
vermittelt
400 ITALIEN IM DILEMMA
die auswärtige Politik Italiens stattfand, richtete nicht nur der Triestiner
Flüchtling und Irredentist Barzilai, sondern auch der Radikale Fortis, ein
früherer Minister des Äußern, scharfe Angriffe gegen Österreich. Es gelang
aber der Gewandtheit des damaligen Ministers des Äußern, späteren Bot-
schafters in London und Paris und Senatspräsidenten Tittoni, unterstützt
von der unerschütterlichen Ruhe des Ministerpräsidenten Giolitti, zwischen
der Szylla und Charybdis, d. h. zwischen den italienischen Verpflichtungen
gegenüber Österreich und der antiösterreichischen Stimmung weitester
italienischer Kreise sich mit Erfolg durchzuwinden. Als es mir geglückt war,
die bosnische Krise ohne Preisgabe noch Schädigung der habsburgischen
Monarchie, aber auch ohne eine große Koniplikation zum Abschluß zu
bringen, machte sich gerade in Italien neben allgemeiner Befriedigung eine
höhere Bewertung des Dreibunds geltend. Der damulige Führer der konsti-
tutionellen Opposition und spätere Minister des Äußern, Sidney Sonnino,
richtete an seine Wähler ein Sendschreiben, in dem es hieß: „Der Dreibund
hat während der letzten Jahre fortgefahren, wirksam zur Erhaltung des
Weltfriedens beizutragen. Es ist daher in jeder Hinsicht wünschenswert,
daß es der Diplomatie gelinge, so bald wie möglich jeden leisen Zweifel, Arg-
wohn oder Mißverständnis, die zwischen den Verbündeten entstanden sein
könnten, zu zerstreuen, und daß schleunigst zwischen der italienischen
Regierung und der des benachbarten Kaiserreichs (Österreich) die Beziehun-
gen von Vertrauen und Herzlichkeit wiederhergestellt werden, welche die
Lösung jeder noch so verwickelten und schwierigen Frage so sehr er-
leichtern.“ Der frühere und spätere Minister des Äußern, Guicciardini, hielt
vor seinen Wählern in San Miniato eine Rede, in der er erklärte, daß er den
Dreibund für die große Bürgschaft des Friedens und also auch für einen
großen Faktor des Fortschritts erachte. Trotz solcher günstigen Symptome
konnte es für den rubigen und mit einigem Scharfsinn begabten Beobachter
der internationalen Beziehungen und der allgemeinen Weltlage natürlich
nicht zweifelhaft sein, daß, wenn Österreich in Serbien einrücken würde
und daraus eine Verwicklung entstünde, es ohne starke Angebote an Italien
nicht möglich sein würde, die Halbinsel im Dreibund zu halten.
Am 14. März 1909 ließ sich der russische Botschafter, Graf Osten-
Sacken, bei mir melden. In der Unterredung, die ich noch am gleichen
Tage mit ihm hatte, appellierte er an unsere Unterstützung, um den russi-
schen Minister des Äußern aus einer für ihn persönlich wie politisch gleich
peinlichen Lage zu befreien. Der österreichische Minister des Äußern habe
gedroht, er werde, um seine von russischer Seite angezweifelte Loyalität
zu beweisen, eine Anzahl geheimer Dokumente veröffentlichen, in denen
Iswolski nicht nur seine volle Zustimmung zu der Annexion von Bosnien
und der Herzegowina gegeben, sondern den Minister geradezu ermutigt