Pessimismus
Ballins
212 DIE STAATSRÄSON
Regierung wie die serbische solche Forderungen schlucke. Sollte dies aber
doch der Fall sein, so bleibe eben nichts anderes übrig, als auch nach An-
nahme aller Forderungen Serbien so lange zu reizen, bis Österreich die Mög-
lichkeit erhalte, in Serbien einzumarschieren. Weiter befanden sich bei den
römischen Akten Abschriften zweier Briefe des Staatssekretärs Jagow aus
dem Großen Hauptquartier an den Unterstaatssekretär Zimmermann, die
mir einen neuen melancholischen Einblick in die Kopf- und Ziellosigkeit des
Auswärtigen Amtes vom Sommer 1914 gewährten. In dem einen vor dem
Marnc-Rückzug geschriebenen Brief ermahnte Jagow das Auswärtige Amt
und die Kaiserliche Botschaft in Rom, sich Italien gegenüber nur ja nicht
zu engagieren, weder durch Versprechungen und Zusagen noch durch Kon-
versationen über etwaige Kompensationen. Wir dürften uns für die zu-
künftigen Friedensverhandlungen Italien gegenüber in keiner Weise die
Hände binden. Das erinnerte an den französischen Minister des Äußern von
1870, den Duc de Gramont, der, als ihm gemeldet wurde, daß die süd-
deutschen Staaten mit Preußen gegen Frankreich gehen würden, mit
heiterer Ruhe erwidert hatte: „Tant mieux! Nos armees se deployeront ä
leur aise dans les plaines de l’Allemagne meridionale, et nous aurouns les .
coud&es franches pour les negociations de la paix.““ Nach dem Marne-
Rückzug, einige Wochen später, war ein händeringendes Schreiben des-
selben Jagow in Rom eingetroffen, in dem er bat, alles aufzubieten, damit
Italien sich uns anschließe.
Wenn ich, wie jeder, der im öffentlichen Leben steht, bisweilen geirrt
habe, vielleicht sogar, wie meine Gegner behaupten, oft irrte, so kann ich
doch mit gutem Gewissen sagen, daß ich nie einem anderen Leitstern ge-
folgt bin als der Staatsräson. Seit ich als Kriegsfreiwilliger bei den
Bonner Königshusaren eintrat und König und Vaterland Treue schwur,
habe ich meine körperlichen und seelischen Kräfte, ohne Schonung meiner
Person, in den Dienst des Landes gestellt, niemals bewußter und rückhalt-
loser als während meiner römischen Mission im Winter 1914/15. Gerade
weil ich mir keine Illusionen über die lebensgefährliche Lage machte, in die
wir fünf Jahre nach meinem Rücktritt durch die Unfähigkeit meines Nach-
folgers und seiner Mitarbeiter geraten waren, spannte ich jeden Nerv an,
um dem schon von so vielen und starken Feinden umringten, von allen
Seiten bedrängten Deutschen Reich einen neuen und nicht zu unter-
schätzenden Gegner zu ersparen. Was ich aus der Heimat hörte, bestärkte
mich in meiner ernsten Beurteilung der Lage. Albert Ballin schrieb mir
bald nach meinem Eintreffen in Rom: „Ich vermag der ganzen Situation
kein freundliches Gesicht aufzuzwingen. Der Gedanke einer Unterseeboot-
Blockade, die, wenn sie glückte, uns die Aussicht schaffen würde, England
mürbezumachen, stößt bei den Juristen und den führenden Geistern des