Professor
Daniel
14 DER KATER ERNST
als treu und tapfer bewährte Oberhofprediger Ernst von Dryander hervor.
Der Ordinarius Dryander plagte uns redlich mit griechischer Grammatik,
mit dem verflixten Aorist, mit dem Optativ und ähnlichen zur Qual eines
Gymnasiasten erfundenen Marterwerkzeugen. Seine Akribie verleidete mir
oft die Freude an den bei ihm gelesenen alten Schriftstellern. Aber ich bin
ihm dankbar, daß er mich nötigte, eine größere Anzahl horazischer Oden
auswendig zu lernen. Mein Vater pflegte zu sagen: „Wohl dem Mann, der
in seiner Jugend viel auswendig lernte und viel abschrieb.““ Ich bin der
gleichen Ansicht. Was man in der Jugend dem Gedächtnis hat einprägen
müssen, das bleibt haften. Es wird ein Krüua &s ael, um eine herrliche
Wendung des Thucydides zu gebrauchen. Was das Abschreiben angeht, so
war mein Vater der Meinung, daß das beste und sicherste Mittel, sich einen
klaren und damit einen schönen diplomatischen Stil im Deutschen wie im
Französischen und Englischen anzueignen, das Kopieren gut geschriebener
Berichte sei.
Keiner meiner Lehrer hat annähernd einen so großen Einfluß auf meine
Entwicklung gehabt wie der Inspector adjunctus am Königlichen Päd-
agogium zu Halle, Professor Dr. Hermann Adalbert Daniel, der Geograph
und Theologe. Er ist wohl der Mann gewesen, der mich neben meinem Vater
in meiner Jugend am stärksten beeinflußt hat. Er war körperlich eine merk-
würdige Erscheinung. Ein gewaltiger Schmerbauch, verhältnismäßig
schwache Beine und kleine Arme gaben ihm etwas Unbeholfenes. Er hatte
den schwankenden und schlürfenden Gang einer Ente und wurde von den
Schülern, bei denen er sehr beliebt war, mit gutmütigem Scherz der
„Watschel‘ genannt. Der Kopf, von lang herabhängendem weißem Haar
umrahmt, war bedeutend. Aus den Augen sprach Güte, Liebe und Ver-
ständnis, sprach vor allem ein hochfliegender und echter Idealismus. Daniel
hat sich viel mit mir beschäftigt, und sein Bild steht nach fast sechzig
Jahren lebendig vor mir. Ich hätte beinahe gesagt: er liegt vor mir. Der
alte Professor lag meist auf einem verschlissenen Sofa, und auf seinem
Bauch rubhte sein schwarzer Kater, der in Halle jedem bekannte „schwarze
Ernst“. Ihm zu Ehren hatte Daniel zur Rechtfertigung des oft verleum-
deten Katzengeschlechts ein lehrreiches, in Leipzig erschienenes Buch ge-
schrieben. Daniel hat mich mit einer Reihe der herrlichsten Schöpfungen
der Alten, die außerhalb des Schulprogramms lagen, vertraut gemacht,
immer kursorisch, ohne mich unnötig mit Grammatik zu plagen. Wir lasen
die meisten Dramen von Sophokles, den „Prometheus“ und die „Perser“
von Äschylos, die Apologie und einige Dialoge von Plato. Daniel bestärkte
mich in meiner Liebe für Homer und Herodot, ließ sie aber beiseite, da mich
mein Vater bereits zu deren Verständnis geführt hatte. Vor allem pflegte er,
wie vor ihm schon mein Vater, mein lebhaftes Interesse für Geschichte,