86 EIN ZERKNIRSCHTER POLIZEIPRÄSIDENT
zu sehr zu befürchten, daß er seiner Aufgabe erliegen und Deutschland vor
dem Schicksal Polens nicht schützen werde.“ Es folgten die spannungs-
vollsten Tage und Wochen in der ruhmvollen Laufbahn des größten deut-
schen Staatsmannes: Am 9. April stellte Preußen beim Frankfurter Bundes-
tag den Antrag auf Reform der Bundesverfassung unter Mitwirkung eines
aus ailgemeinem Wahlrecht hervorgehenden Parlaments.
Am 7. Mai gab auf den von einem Vortrag beim König zurückkehrenden
Attentat auf Ministerpräsidenten in der Mitte der Berliner Linden, schräg gegenüber der
Bismarck Russischen Botschaft, ein kleiner, schwarzhaariger, kaum zwanzigjähriger
Mensch rasch hintereinander zwei Revolverschüsse ab. Der Attentäter hieß
Ferdinand Cohn. Er war der Stiefsohn des in London im Exil lebenden
Schriftstellers Karl Blind, der wegen Teilnahme an den Freischarenzügen
von Struve und Hecker ins Ausland geflohen war, also ein waschechter
Demokrat. Als er zum drittenmal zielte, sprang Bismarck auf ihn los. Der
Attentäter schoß trotzdem wieder. Von Graf Bismarck gleichzeitig an der
Brust und am rechten Faustgelenk gepackt, gelang es ihm, den Revolver
in die linke Hand zu nehmen und noch zwei Schüsse auf den Minister-
präsidenten abzufeuern. Bismarck übergab den Verbrecher einigen Soldaten
des gerade am Schauplatz des Attentats vorbeimarschierenden 1. Bataillons
des 2. Garde-Regiments zu Fuß. Der Paletot des Ministerpräsidenten war
vom Pulver der Schüsse versengt, von fünf Kugeln durchlöchert. Bismarck
begab sich zu Fuß nach seiner Wohnung. Er hat das Mißlingen dieses Mord-
versuchs immer nicht nur als eine besondere Gnade Gottes angesehen, der
sein Leben wunderbar beschützt habe, sondern darin auch ein Zeichen er-
blickt im Sinne des Bibelwortes: „Fürchte dich nicht, denn Ich bin bei dir,
weiche nicht, denn Ich bin dein Gott.‘ Das hinderte ihn nicht, den Polizei-
präsidenten von Bernuth, der sich eine Stunde nach dem Mordversuch ver-
legen bei ihm meldete, vorwurfsvoll zu fragen, wie es möglich sei, daß
Unter den Linden, am hellen Tage, gerade um die Zeit, wo er immer aus
dem Palais des Königs zurückzukehren pflege, fünfmal hintereinander auf
ihn geschossen werden konnte, ohne daß sich ein Polizist blicken lasse. Sehr
zerknirscht erwiderte Herr von Bernuth: „Ich habe meinen Posten nur
ungern angenommen, ich habe mich lange gegen dessen Übernahme ge-
sträubt.‘‘ Der Ministerpräsident donnerte ihn an: „Lange nicht lange
genug!“ Was Bismarck dem Polizeipräsidenten am meisten übelnahm, war,
daß Cohn die Möglichkeit gelassen wurde, im Gefängnis Selbstmord zu be-
gehen. Bismarck hätte es richtiger gefunden, wenn der Meuchelmörder
öffentlich, auf dem Schafott, an Leib und Leben gestraft worden wäre, ihm
selbst zur gerechten Strafr, anderen zum abscheulichen Exempel. Bismarck
hat viele Jahre nach dem Attentat vom 7. Mai 1866 im Reichstag darauf
hingewiesen, daß die Grabstätte des Attentäters Cohn von demokratisch