Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DAS WIENER KABINETT VERSPRICHT 93 
Seele Frankreichs sprach. Jedenfalls sprach aus ihr die Politik von Hein- 
rich II., Heinrich IV., Richelieu, Louis XTV, die Politik des Konvents und 
von Napoleon I., die Politik von Poincare, Clemenceau und des Marechal 
Foch, die Auffassung der Mehrheit aller Franzosen, die Politik, welche die 
Macht, die Wohlfahrt und die Größe Frankreichs auf die Schwäche und 
Zersplitterung Deutschlands aufbaut. Natürlich fehlte es in der Rede von 
Thiers nicht an der Behauptung, daß Preußen die Unabhängigkeit der 
Deutschen bedrohe, die schon von den Bourbonenkönigen in Schutz ge- 
nommene „deutsche Libertät‘“, daß es ein neues germanisches Reich be- 
gründen wolle, das für Europa bedrohlich, für Frankreich unerträglich sein 
würde. Frankreich müsse deshalb Italien verhindern, gegen Österreich vor- 
zugehen. Das müsse Italien, für das Frankreich fünfzigtausend Soldaten 
und sechshundert Millionen geopfert habe, einfach und deutlich verboten 
werden. Preußen müsse gezwungen werden, den Degen wieder einzustecken. 
Der Rede Thiers’ folgte ein Beifallssturm der ganzen Kammer, der Oppo- 
sition wie der Majorität. 
Die Fortsetzung der Debatte wurde nur dadurch verhindert, daß der 
Ministerpräsident Eugene Rouher ein anscheinend gefälschtes Tele- 
gramm vorlas, wonach Italien sich offiziell verpflichtet habe, Österreich 
nicht anzugreifen. Napoleon III. beeilte sich, wenige Tage nach der Rede 
von Thiers in einer öffentlichen Ansprache zu erklären, daß er mit der 
Mehrheit des französischen Volkes die Verträge von 1815 verabscheue, 
die Thiers zur einzigen Grundlage der französischen Politik machen wolle. 
Aus dieser Äußerung sprach nicht nur der Ärger über Thiers, den der Kaiser 
als seinen persönlichen Feind betrachtete. Auch nicht allein Weltfremdheit 
und Phantasterei. Napoleon III. hoffte, daß bei einem Kriege zwischen den 
beiden deutschen Großmächten Preußen nach seiner voraussichtlichen 
Niederlage die französische Hilfe mit der Abtretung des linken Rheinufers 
erkaufen würde, auf das damals wie heute die französischen Absichten ge- 
richtet waren. 
Die österreichische Politik war so ungeschickt, wie sie 1859 gewesen 
war und 1914 wieder sein sollte. Um den Kaiser Napoleon III. bei guter 
Laune zu erhalten, hatte das Wiener Kabinett ihm versprochen, daß es 
Italien, wie auch der Krieg ablaufen möge, Venetien abtreten würde, 
das nach dem Französisch-Österreichischen Kriege von 1859 bei Österreich 
geblieben war. 
Wie war es möglich, daß unter solchen Umständen die habsburgische 
Monarchie, wenn sie schon mit Preußen den Kampf um die Vorherrschaft 
in Deutschland aufnehmen wollte, nicht alle ihre Kräfte gegen den 
deutschen Nebenbuhler konzentrierte, statt ein gutes und starkes 
österreichisches Heer mit dem Erzherzog Albrecht, in Oberitalien auf den 
Österreichs 
Zusage
	        
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