BEI PROFESSOR GAY 115
hundert Gulden, was unsere Stimmung hob. Die Strecke von Luzern über
den Brünig bis Brienz legten wir zu Fuß zurück. In Bern fütterten wir die
Bären und marschierten dann wieder zu Fuß von dem alten Wachtturm in
Romont bis Vevey. Vom Signal de Chexbres genoß ich zum erstenmal die
Aussicht auf den Genfer See, zu dem ich oft zurückkehren, nach dem ich
mich noch öfter sehnen sollte.
Wir wurden in Lausanne im Hause des Professors Gay untergebracht,
der an der Universität französische Literatur las. Er war, wie die meisten
Waadtländer, ein frischer und fröhlicher Mann, der das Leben von der
heiteren Seite nahm. Man sagt, daß der gute Waadtländer Wein die Men-
schen lustig stimme. Madame Gay, die aus Aigle im Rhönegebiet stammte,
sorgte treulich für uns. Vom Gayschen Haus erblickte man den See. Einen
noch umfassenderen Rundblick hatten wir von der Terrasse des alten
Münsters, der im Jahre 1000 erbauten, wohl schönsten gotischen Kathe-
drale der Schweiz. Unser Lieblingsspaziergang war nach dem Montbenon,
einer Promenade, die den Stolz aller Bewohner der Stadt bildete und
hoffentlich noch bildet.
Von den Vorlesungen besuchte ich nur diejenigen meines Hausvaters,
alle übrigen schwänzte ich. In der Rue du Bourg entdeckte ich einen mir
sehr sympathischen Laden, in dem die in Lausanne zahlreich vertretenen
Engländer sich mit gutem englischem Tabak und kurzen Holzpfeifen ver-
sahen. In Halle und schon in Strelitz hatte ich Zigarren geraucht. Jetzt kam
ich dahinter, daß guter englischer Tabak aus einer kurzen Holzpfeife noch
besser schmeckt. Ich habe vierzig Jahre lang die Freuden des Rauchens aus
einer Holzpfeife genossen, dann aber dieses Laster von heut auf morgen
aufgegeben, als mich mein Freund und Arzt Renvers davon überzeugte,
daß Hals und Magen sich ohne Rauchen besser befänden. Auf die Frage,
die so viele Philosophen beschäftigt hat, ob der Mensch glücklicher sei,
wenn er viele oder wenn er keine Bedürfnisse habe, will ich hier nicht ein-
gehen.
An der Universität Lausanne florierten zwei Verbindungen: die Bellet-
triens, die sich vorzugsweise aus der französischen Schweiz, und die Zo-
finger, die sich aus der ganzen Eidgenossenschaft rekrutierten. Wir hielten
uns von beiden Verbindungen fern, knüpften aber mit einer Reihe junger
Schweizer, insbesondere mit Waadtländern und Genfern, freundschaftliche
Beziehungen an, von denen mich einige durch mein ganzes Leben begleitet
haben. Ich unternahm von Lausanne aus auch im Winter, zum Teil im
Schnee, kleinere Bergbesteigungen in allen Richtungen. Die Ufer des Sees
kannten wir bald genau. Ich bin zu Fuß in Morges, in dem von Wein-
bergen umgebenen Rolle, in Nyon mit seinem altertümlichen Schloß und
in Coppet gewesen. In Coppet gedachte ich meines Großonkels Wolf
8*
Pension
Der Genfer See