Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

TRAGISCHER ZWISCHENFALL 117 
Gestalt einer schönen Frau. Ich hätte standhaft bleiben sollen wie einst in 
ähnlicher Lage der heilige Antonius und wie, sehr viel früher, der keusche 
Joseph. Aber nicht jeder ist zum Heiligen ausersehen. Es ist schwer, ein 
Heiliger zu werden, sonst würde es ja viel mehr Heilige geben. 
Frau von X. war sehr schön, die Versuchung war sehr groß. Ich akzep- 
tierte die liebenswürdige Einladung, ich akzeptierte sie sogar sehr gern. 
Frau von X. nahm meinen Arm und ging auf die Tür zu. Der Hellene, der 
uns seit einiger Zeit mit offenbarer Erregung beobachtete, näherte sich uns. 
Ich hörte ihn flüstern: „De gräce! Accordez-moi un instant, Ecoutez moi! 
Je ne vous ai pas trahie. Il s’agit d’une distraction, d’une plaisanterie.“ 
Sie antwortete nicht. Als wir vor der Hoteltür standen, forderte sie mich 
auf, zuerst in den Wagen einzusteigen. Der Grieche stand neben ihr. Er 
flüsterte: „Je vous supplie, ayez pitie de moi! Je vous jure: Si vous ne me 
pardonnez pas, je me tuerai.“ Sie hatte inzwischen neben mir Platz ge- 
nommen. Sie ließ die Fensterscheibe des Wagens herab, und jedes Wort 
akzentuierend erwiderte sie: „Vous @tes bien trop läche pour vous tuer. 
Cocher! Chez moi, et ventre ä terre!“ 
Als ich am nächsten Vormittag zu Fuß von der Villa nach Vevey zu- 
rückkehrte, sah ich schon von weitem eine Anzahl Menschen auf dem Kai 
vor dem Hötel des Trois-Couronnes, die lebhaft gestikulierend mit Fern- 
rohren und Operngläsern auf den See blickten. Als ich näher kam, hörte ich, 
daß ein Boot ohne Insassen und ohne Ruder auf den Wellen treibe. Am 
Abend vorher habe der junge Grieche in später Stunde ein Boot gemietet 
und sei allein auf den See hinausgefahren. Er sei nicht zurückgekehrt. 
Eine Stunde später verbreitete sich die Nachricht, daß die Leiche des 
Armen bei St. Saphorin ans Ufer getrieben worden sei. Er hatte den Tod 
des Leander gefunden, aber unglücklicher als dieser, denn seine Hero 
weinte nicht um ihn. 
Während das traurige Ereignis nach allen Seiten erörtert wurde, näherte 
sich meine schöne Freundin. Ich ging ihr entgegen, um sie schonend auf den 
Trauerfall vorzubereiten. Sie verlor nicht eine Minute ihre Haltung, die 
Ruhe einer Marmorstatue, eine Ruhe, welche die Schönheit ihrer junoni- 
schen Gestalt noch mehr hervortreten ließ. ‚‚Je lui ai toujours dit qu’il 
n’avait pas le pied marin‘“, meinte sie gleichmütig. Das tragische Ereignis 
schien auf alle einen stärkeren Eindruck zu machen als auf die schöne Frau, 
die mich während der Nacht beherbergt hatte. Von verschiedenen Seiten 
wurde angeregt, am Abend die übliche Sauterie ausfallen zu lassen. Sie 
widersetzte sich diesem Vorschlag. Sie meinte: „Cela me semble bien exa- 
gere. Apres tout, nous ne sommes ni apparentes avec ce jeune @tourdi, ni 
autrement lies avec lui. Dansons comme toujours!“ Sie nahm abends am 
Tanze teil mit dem Gleichmut, mit dem sie in der spanischen Arena
	        
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