Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

„SYSTEM DER VOLKSWIRTSCHAFT“ 119 
Bleistift in der Hand, mehr als einmal gelesen. Insbesondere der erste Band 
ist mir in succum et sanguinem übergegangen, ich habe ihn mit eigenen An- 
merkungen versehen und ganze Stücke exzerpiert. Auch die ‚‚National- 
ökonomie des Handels- und Gewerbefleißes“‘ habe ich mit Interesse und 
Vorteil gelesen. Sie ist mehr als nur ein „Hand- und Lesebuch für Geschäfts- 
männer und Studierende‘, wie mit heute selten gewordener Bescheidenheit 
der Autor auf dem Titelblatt ankündigt. Jeder, der im öffentlichen Leben 
steht, kann viel aus ihr lernen. Ich fand bei Roscher schon als junger Mensch 
das Rüstzeug, mit dem ich viel später, ohne ungerecht zu sein gegen die 
sozialdemokratischen Bestrebungen, das in ihnen bekämpfte, was mit dem 
Wohl des Ganzen, mit den richtig verstandenen Staatsinteressen, mit dem 
Bestehen eines starken und glücklichen Reichs unvereinbar war. Ich lernte 
von Roscher, daß es ebensowenig ein für alle Zeiten und alle Völker gültiges 
Wirtschaftsideal wie ein für alle und jeden passendes Kleidermaß gibt. Er 
lehrte mich, daß wie im Weltgebäude die scheinbar entgegengesetzten Be- 
strebungen der Zentrifugalkraft und der Zentripetalkraft die Harmonie der 
Sphären bewirken, so im wirtschaftlichen Leben des Menschen Eigennutz 
und Gewissen den Gemeinsinn bilden. Er schärfte früh meinen Blick dafür, 
daß der Sozialismus und der Kommunismus keine unerhörten, nur der 
neuesten Zeit eigentümlichen Erscheinungen sind, wie die blinden Gegner 
und die blinden Anhänger glauben, sondern eine Krankheit, die sich fast 
regelmäßig bei hochkultivierten Völkern in einer gewissen Lebensperiode 
einstellt. Er wies aus der Geschichte nach, daß sich in sozialistischen Ge- 
‚dankengängen seit jeher die edelsten Geister und die niedrigsten Seelen 
begegnet seien. Ich fand es also nicht allzu verwunderlich, daß in dem wirt- 
schaftlich rasch, vielleicht allzu rasch emporgekommenen, in dem über alles 
Erwarten wohlhabend, reich, hier und da allzu üppig gewordenen Deutsch- 
land viele tüchtige und ehrenwerte Arbeiter der roten Fahne folgten und 
daß ihnen diese Fahne von (wenigstens zum Teil) überzeugten, von einer 
edlen Idee erfüllten Führern vorangetragen wurde. 
Schon in jungen Jahren stand ich auf dem Standpunkt, den ich als 
Reichskanzler und Ministerpräsident in der ersten Rede, die ich am 
9, Januar 1901 im Preußischen Abgeordnetenhause gehalten habe, in die 
Worte zusammenfaßte: „Nach meiner politischen Gesamtauffassung be- 
trachte ich es als die vornehmste Aufgabe der Regierung, in dem Kampfe 
der wirtschaftlichen Interessen die vorhandenen Gegensätze nach Möglich- 
keit zu vereinen, zwischen den verschiedenen Interessen einen möglichst 
gerechten Ausgleich herbeizuführen und diejenigen zu stützen, die sich aus 
eigner Kraft nicht helfen können*.“ Auch für die öffentlichen Angelegen- 
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, 176; Kleine Ausgabe I, 234. 
Individua- 
listisch und 
zentralistisch
	        
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