FRÜHJAHR 1870 127
Erweiterung und Verallgemeinerung der gegnerischen Behauptung, die
versteckte Petitio principii, das Ausfragen des Gegners, das Urgieren der
schwachen Punkte in seinen Ausführungen, über das Argumentum ex
concessis, die Mutatio controversiae, die Retorsio argumenti, das Ar-
gumentum ab utili, das Argumentum ad auditores, das Argumentum ad
verecundiam, das Argumentum ad personam empfichlt, das alles hatte ich
schon längst aus eigenem Antrieb gelegentlich in der Debatte angewandt.
Ich war also, um mit Jourdain zu sprechen, ein Eristiker, ohne es zu wissen.
Ich habe aber auch den von dem Frankfurter Philosophen zustimmend
zitierten Ausspruch von Voltaire nicht vergessen: „La paix vaut encore
mieux que la verite.““ Der deutsche Politiker, der zu Doktrinarismus, zu
parteipolitischer Verbissenheit, zu Selbstsucht und Selbstüberschätzung
neigt, kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß der innere Friede
des Landes, die Verträglichkeit unter den Bewohnern desselben Hauses,
die Versöbnlichkeit unter den Kindern derselben Mutter in erster Linie
angestrebt werden muß. Für diejenigen meiner lieben Landsleute, die trotz
Bismarck und Goethe die Politik noch immer als einen Zweig der Moral-
philosophie betrachten, bemerke ich endlich, daß ohne eine gewisse Dosis
Dialektik kein Redner in der parlamentarischen Debatte überzeugend wirkt.
Im Frühjahr 1870 schien sich mein Halsleiden zu verschlimmern, ob-
gleich ich im Sommer 1869 dagegen eine Kur in dem oberbayrischen Bade
Kreuth gebraucht hatte. Die Berliner Ärzte rieten zu einer neuen Kur in
dem westfälischen Bad Oeynhausen, wo ich bei Dr. Cohn Wohnung nahm,
einem tüchtigen und liebenswürdigen Arzt, an den mich der große
Diagnostiker und Pathologe Ludwig Traube empfohlen hatte. Als ich mich
vor meiner Abreise von Berlin, Ende Juni 1870, von meinem Vater
verabschiedete, fand ich ihn in sehr melancholischer Stimmung. Zu dem
Verlust seiner einzigen, so zärtlich geliebten Tochter kam, daß sich bei
seinem vierten Sohn, Christian, ohne erkennbaren Anlaß ein Augenleiden
eingestellt hatte, das meinen Vater mit ernster Sorge erfüllte. Der damals
kaum fünfzehnjährige Knabe mußte sich nicht nur schmerzlichen Ein-
spritzungen unterziehen, sondern viele Monate in einem dunklen Zimmer
verbringen, wodurch seine Studien empfindlich gestört wurden. Die neueste
Ophthalmologie hat übrigens diese Methode vollständig aufgegeben. Der
vortreffliche Hauslehrer meines Bruders Christian, der sich später als Konsul
in Nisch bewährte, der dort allzufrüh verstorbene Dr. Emil Oberg, brachte es
dank der geistigen Energie seines Zöglings und dessen gutem Gedächtnis
fertig, ihn durch mündliche Vorträge bis zur Stufe der Sekunda zu bringen.
Christian hat später die Ritterakademie in Brandenburg a. H. besucht, dort
ein gutes Abiturienten-Examen abgelegt und ist ein tüchtiger Offizier bei
den 2. Garde-Dragonern geworden, dem tapferen Regiment, bei dem schon
Oeynhausen