Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

„AUBURN HAIR“ 141 
Kindheit erinnerte, weil ich mit meinen Eltern auf der Reise nach Blanken- 
berghe dort abgestiegen war. An der Tür empfingen uns der Oberkellner 
und ein Stubenmädchen, die uns offenbar für ein jungverheiratetes Ehepaar 
hielten. Der Oberkellner, dem ich mit Aplomb erklärte, unser großes Gepäck 
werde am nächsten Tage eintreffen, führte uns in ein geräumiges Schlaf- 
zimmer, in dem ein großes Himmelbett stand. Das Stubenmädchen 
flüsterte meiner errötenden Begleiterin zu: „Gnädige Frau werden sich hier 
sehr wohl fühlen. Hier haben schon viele Neuvermählte ihre Hochzeitsnacht 
gefeiert.‘“ Stubenmädchen und Kellner zogen sich diskret zurück, wir 
standen uns allein gegenüber. 
Meine Reisegefährtin erschien mir noch liebenswürdiger als am Vor- 
mittag auf dem Rheindampfer. Ich hatte sofort bemerkt, daß sie kleine 
und hübsche Füßchen und lange, feine Hände hatte. Sie hatte auch blaue, 
ausdrucksvolle Augen und ein reizendes Stumpfnäschen. Ihr Haar war 
kastanienbraun, „auburn hair“, wie die Engländer es nennen. Das Lächeln, 
das um ihren Mund spielte, der Blick ihrer Augen ließen mich hoffen, daß 
ich ihr nicht ganz unsympathisch wäre. Faust sagt zu Gretchen: „Ach, 
kann ich nie ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen und Brust an Brust 
und Seel’ an Seele drängen?“ Das arme Gretchen erwidert: „Ach, wenn 
ich nur alleine schliefe! Ich ließ’ dir gern heut nacht den Riegel offen. Doch 
meine Mutter... .‘“ Zwischen mir und meiner kleinen Freundin stand keine 
störende Mutter. 
Der Morgen, wo es Abschied nehmen hieß, war sehr traurig. Nach 
einer letzten, stürmischen und nach einer allerletzten, noch stürmischeren 
Umarmung brachte ich meine kleine Gefährtin auf die Bahn. Aus dem 
Eckfenster des Abteils, in dem sie Platz nahm, rief sie mir zu: „Ver- 
giß mich nicht, ich werde dich nie, nie vergessen!“ Das Publikum 
lachte. Wie roh sind doch die Menschen, wie verständnislos für hohe und 
wahrhaft edle Empfindungen, dachten wir beide. Sie ließ sich aber nicht 
irre machen, warf mir unbekümmert um das ‚„‚profanum vulgus“ ein Kuß- 
händchen nach dem andern zu und flüsterte, während der Zug sich langsam 
in Bewegung setzte, schelmisch: „Du bist wirklich kein Kind, wie ich auf 
dem Dampfschiff zu dir sagte. Du bist ein Mann, ein reizender Mann 
und...“ Ihre letzten Worte aus dem abfahrenden Zug erreichten mich nicht 
mehr. Bald entschwand ihr liebes Köpfchen, dem meine sehnsüchtigen 
Blicke folgten. 
Lange, sehr lange habe ich nichts von meiner kleinen Kölner Freundin 
gehört. Erst nach siebenunddreißig Jahren, longum spatium aevi, nach den 
glücklichen Reichstagswahlen von 1907, erhielt ich ein Lebenszeichen von 
ihr. Sie müsse mir gratulieren, schrieb sie in einem hübsch tournierten 
Briefchen, und wolle mir gleichzeitig sagen, mit welchem Anteil sie meinen
	        
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