156 DER SEILTÄNZER
alle Zeiten lehrreich, festzustellen, daß kein politischer Entschluß, keine
diplomatische Demarche des größten deutschen Staatsmannes bei der deut-
schen öffentlichen Meinung stärkeren Anstoß erregt hat, keiner seiner diplo-
matischen Schachzüge von allen freisinnig und fortschrittlich Gesinnten in
Deutschland bitterer kritisiert worden ist als die Konvention, die der Aus-
gangspunkt für die Siegesstraße wurde, die über Sadowa und Sedan nach
Paris führte. Nur zwei Stimmen: In der Debatte, die im Februar 1863 im
Preußischen Abgeordnetenhause über die von einem Polen, dem Abgeord-
neten Kantak, eingebrachte Interpellation stattfand, erklärte der liberale
Abgeordnete von Sybel, später von allen deutschen Historikern wohl der
eifrigste Panegyriker der Bismarckschen Politik: „Wir haben, meine
Herren, den dringendsten Grund zum Protest gegen eine Politik, welche
uns aus freien Stücken mit der Mitschuld an einer kolossalen, von ganz
Europa mit sittlicher Empörung betrachteten Menschenjagd belastet,
welche eine in den polnischen Wäldern glimmende Insurrektion ohne Not
zur europäischen Frage umschafft, und, da das einmal geschehen, dann
nach der Natur der Verhältnisse die Wucht dieser europäischen Frage zum
größeren Teil von den Schultern Rußlands hinweg und auf unsere eigenen
Schultern hinüberwälzt, eine Politik, welche alle diese maßlosen Opfer ohne
die Spur einer Aussicht auf eine anderweitige Entschädigung bringt.“ Und
der Abgeordnete Simson, der 1871 als Präsident des Reichstages der Ver-
kündigung des deutschen Kaisertums in Versailles beiwohnen sollte, fällte
am 28. Februar 1863 nachstehendes Urteil über den damaligen Minister-
präsidenten von Bismarck: „Ich verlange nicht, meine Herren, denn das
Verlangen wäre ein übermäßiges, daß eine Regierung allezeit den kühnen
Flug des Genies einzuhalten imstande sei. Mehr gerechtfertigt wäre schon
die mildere Forderung, daß sie den ruhigen, sicheren Gang des Talents und
der Erfahrung zu gehen verstünde. Aber in jedem Fall wird die Bewunde-
rung dafür, daß jemand nicht fällt, die Bewunderung, die man jedem Seil-
tänzer würde zuwenden müssen, eine Bewunderung sein, nach der nicht
jedermanns Gaumen und Appetit stände.“ Ich gestatte mir hierzu die be-
scheidene Zwischenbemerkung, daß auch ich, namentlich während der
letzten Jahre meiner Amtsführung, als diplomatischer Seiltänzer von
manchen Kritikern angegriffen wurde, die später des Vertrauens und des
Lobes voll waren für den sicheren und soliden Gang der auswärtigen Politik
des ehrenwerten und zuverlässigen Kanzlers von Bethmann Hollweg.
Selten oder nie ist ein Minister heftiger angegriffen, ärger geschmäht worden
als Bismarck nach dem Abschluß der eben erwähnten preußisch-russischen
Konvention. Bismarck licß sich aber nicht irremachen und seine fromme
Frau auch nicht, die sich in jenen für sie und ihren Mann schweren Tagen
mit dem alten Herrnhuterliede tröstete: