DER ADLER 195
mit ‘über hunderttausend Einwohnern, darunter zwanzigtausend brotlose
Arbeiter, in Besitz genommen, die größte französische Stadt, die bis dahin
von deutschen Truppen okkupiert worden war. Unsere Schwadron bezog
die schöne neue Kavallerie-Kaserne, La bonne Nouvelle, in der Vorstadt
Saint-Severe. Am Abend promenierte ich mit Kameraden auf den Quais
längs der Seine. Heller Mondschein spiegelte sich im Fluß, und er spielte auf
den Namenszügen der Königshusaren, als sie auf der großen Steinbrücke
den Fluß überschritten. Diese Brücke war siebzig Jahre früher von dem
Premier Gonsul Bonaparte eingeweiht worden. Er wurde damals an der
Brücke von dem Prefet de la Seine Inferieure empfangen, dessen allzu
sicheres Auftreten ihn reizte. Nachdem sie zusammen die Brücke über-
schritten hatten, suchte der künftige Kaiser den noch sehr jungen Präfekten
durch eine Reihe eingehender und nicht leicht zu beantwortender Fragen
über die Verhältnisse seines Amtsbezirkes in Verlegenheit zu setzen. Der
Präfekt fand auf jede Frage eine rasche und gute Antwort. Endlich frug
Bonaparte: „Et combien d’oiseaux ont passe aujourd’hui ce pont?“ Ohne
sich einen Augenblick zu besinnen, erwiderte der Präfekt: „Un seul,
Premier Consul, un aigle!‘“ Dieser Präfekt hat unter dem ersten Kaiserreich
eine gute Karriere gemacht.
Rouen mit seinen Kirchen, der Kathedrale und der Kirche Saint-Ouen,
herrliche Baudenkmäler reinster Gotik, mit seinen altertümlichen, engen
Straßen, mit der hier schon breit und mächtig strömenden Seine, mit den
malerischen Höhenzügen am rechten Seineufer steht mir in freundlicher
Erinnerung. Auch das Eckrestaurant am Quai, wo es wundervolle Seefische
und frische Huitres de Marennes gab, wurde nach den Entbehrungen des
langen und mühsamen Marsches von der Mosel bis zur Seine gern auf-
gesucht. Am Tage nach unserem Einmarsch in die Hauptstadt der Nor-
mandie sah ich den Erzbischof von Rouen, Monseigneur de Bonnechose,
der sich zu Fuß nach der Präfektur begab, wo der General von Man-
teuffel abgestiegen war. Als der General frug, warum der Erzbischof nicht
gefahren sei, antwortete dieser, daß bei ihm, wie bei vielen Bewohnern
der Stadt, die Pferde requiriert worden seien, deshalb sei er per pedes
apostolorum gekommen. Der chevalereske General ließ noch am selben
Tage dem Erzbischof seine Pferde wieder zustellen. Eine Ritterlichkeit, an
der, als sie mit Hilfe der halben Welt das deutsche Volk überwältigt hatten,
die französischen Generäle Foch und Nollet, Degoutte und de Metz es nur
allzusehr haben fehlen lassen.
Ich habe mich bei dem General Manteuffel während des Winterfeldzuges
1870/71 ein- oder zweimal gemeldet, ihn auch wiederholt vorbei gehen und
reiten sehen. Mein Eindruck war, daß er mit Bewußtsein den Feldherrn
markierte, den Feldherrn, der es edel und nobel treibt. Ich habe schon
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General
v. Manteuffel