Marie de Y.
248 DER GUTE ABBE
Maire und interimistischen Prefet de la Somme, Monsieur Dauphin, bin ich
sehr bekannt. Er ist ein bedeutender Mann und wird in seinem Lande sicher
einmal eine Rolle spielen. Auch seine Frau ist recht distinguiert. Ein großer
Freund von mir ist Monsieur de Neux, Präsident der Philharmonischen Ge-
sellschaft, ein liebenswürdiger Mann mit netter Frau und Tochter. Oft bin
ich auch bei einer Frau von Y. mit einem unbedeutenden Mann, aber zwei
liebenswürdigen Töchtern. Auf diese Weise hat es mir wirklich gut gefallen,
und ich kann die Zeit hier wohl zu der angenehmsten rechnen. Ich war fast
jeden zweiten Mittag oder Abend irgendwo gebeten. Vergessen habe ich
noch einen Engländer, der hier angesessen ist und eine große Fabrik hat,
einen Mr. Z., der gescheit und unterrichtet ist und eine sehr liebenswürdige
und schöne Frau hat. Ich war fast täglich in ihrem Hause. Ich hatte es so
besser, als wenn ich ganz auf die Cafes angewiesen gewesen wäre. Der
General und die Generalin sind für mich stets von der größten Liebens-
würdigkeit gewesen. Der General ist bei ziemlicher Heftigkeit und unter
Umständen Grobheit ein herzensguter Mann.
Des Abends pflegten ziemlich viel Leute zu kommen, so der Oberst von
Rosenzweig und Major von Koppelow (Mecklenburger), vom 28. Regiment,
der kluge Oberst von Witzendorf, Generalstabschef von Goeben, General
Strubberg, unser Oberst von Loö, den leider das Regiment verliert, am
häufigsten Graf Lehndorff, früher Präfekt, jetzt Zivil-Kommissar, sehr
liebenswürdig für mich. Leider ist sein Neffe jetzt fort, ein junger Graf
Fritz Dönhoff, vom 2. Garde-Ulanen-Regiment, ein sehr guter Freund
von mir. Alle diese Leute gehen jetzt aber nach und nach fort. Sobald
ich Näheres über meinen Abgang weiß, schreibe ich Euch. Euer treuer
Sohn.“ |
Ich erwähnte in meinem Schreiben Frau von Y. mit ihren Töchtern und
ein engliches Ehepaar Z. Bei Frau von Y. hatte mich ein vortrefflicher Abbe
eingeführt. Ich habe Zeit meines Lebens gern Religionsgespräche geführt,
vorausgesetzt, daß von beiden Teilen festgehalten wurde an dem mir teuren
und oft von mir betonten Grundsatz: In necessariis unitas, in dubiis liber-
tas, in omnibus caritas. Der gute Abb& suchte mich für seine Kirche zu
gewinnen. Ich besitze noch ein damals in Frankreich in katholischen
Kreisen viel gelesenes Buch, das er mir mit einer schönen Widmung
schenkte. Es hieß: La Raison du catholicisme par Nicolas, ancien magistrat.
Noch mehr als von der Wirkung dieses allzu weitschweifigen, hier und da
etwas naiven Werkes erhoffte er von meinem Verkehr mit der Familie Y.
und namentlich mit Fräulein Marie de Y. Wäre eines der schönsten Lieder
von Heinrich Heine durch allzu häufiges Zitieren nicht zu abgegriffen, so
würde ich von Marie de Y. sagen: „Sie war wie eine Blume, so hold und
schön und rein.“ Ich unternahm viele Spaziergänge mit ihr und ihren