Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

266 ÜBERARBEIT 
Nun ging ich an die Arbeit. Die Weisheit der Inder sagt: Wer alles weiß, 
der ist selig zu preisen, wer nichts weiß, dem kann geholfen werden, wer 
aber nur halb weiß, an dem wird Brahma selbst zum Knecht. Daß das 
Halbwissen wie überall so auch in der Politik gefährlich ist, haben nach 
dem Umsturz unter der Republik nicht wenige improvisierte Minister 
bewiesen, denen redlicher Wille und emsiger Fleiß nicht abgesprochen 
werden konnte, die aber dennoch in ihren Ämtern versagten. Ich befand 
mich in Greifswald im zweiten Fall: Ich wußte für mein Examen noch gar 
nichts. Da hieß es alle Kräfte anspannen. Ich stand regelmäßig um fünf 
Uhr früh auf und arbeitete dann in einem Zuge von sechs bis zwölf. Ich 
aß mit Arenberg und Hartmann an der Table d’höte im Deutschen 
Haus. Wie 1870 in Bad Oeynhausen, so florierte auch in Greifs- 
wald die altväterische, gemütliche Table d’höte. Von zwei bis drei 
besprach ich mit Arenberg und Hartmann, was ich am Vormittag stu- 
diert hatte. Ich kann nicht genug die Geduld rühmen, mit der besonders 
der Kaplan Hartmann Verständnis für die Rechtsgelehrsamkeit und 
ihre für das Examen in Betracht kommenden Fächer bei mir weckte 
und entwickelte. 
Von drei bis fünf Uhr ritt ich spazieren, bei jedem Wetter, auch bei 
Schneegestöber und Glatteis. Ich hatte meine schöne Rappstute nach 
Greifswald mitgenommen. Ich ritt meist nach Eldena, einem an der 
Mündung des Flüßchens Ryk gelegenen Ort, der mich weniger durch seine 
Landwirtschaftsschule anzog als durch die Ruinen eines im Dreißigjährigen 
Kriege von den Schweden zerstörten Zisterzienserklosters, von dem einst 
die Gründung von Greifswald ausgegangen war. Von Eldena war die Ostsee 
zu erblicken. Nicht weit von der Landwirtschaftsschule lag ein Hain mit 
riesigen Buchen, von denen die Greifswalder behaupteten, daß sie im 
Sommer einen prächtigen Anblick böten. Vom winterlichen Spazierritt in 
mein bescheidenes Quartier zurückgekehrt, machte ich mich wieder an die 
Arbeit, die ich, nur durch ein frugales Abendbrot unterbrochen, meist bis 
Mitternacht ausdehnte. Um mich wachzuhalten, trank ich starken Tee. 
Bei zwölf Stunden Arbeit schlief ich kaum fünf Stunden. 
Dieser Unfug hatte acht Wochen gedauert, als ich an einem Sonntag, 
nachdem ich den Gottesdienst in der Marienkirche besucht hatte, deren 
schöne, aus Holz geschnittene Kanzel im ganzen Regierungsbezirk Stralsund 
berühmt war, in meinem Zimmer von einer schweren Ohnmacht befallen 
wurde. Sie trat genau so ein wie fast fünfunddreißig Jahre später meine 
Ohnmacht im Reichstag. Auch die Ursache war die gleiche: zuviel Arbeit 
bei zuwenig Schlaf. Da ich in Greifswald von der Ohnmacht in meinem 
Stübchen überrascht wurde, nicht vor der Vertretung des deutschen Volkes 
und dichtgefüllten Tribünen, so wurde kein Aufheben von dem kleinen
	        
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