EIN GESTOHLENER ZARENBRIEF 13
le Marquis de Tallenay. Er verkehrte viel in unserem Hause und entzückte
uns Kinder durch die Schnurren, die er uns erzählte. Der Erste Sekretär der
Französischen Gesandtschaft in Frankfurt a.M., M. Gustave Rothan, war
der Sohn eines protestantischen Geistlichen im Elsaß und trug einen
outrierten Chauvinismus zur Schau. Er hat später eine Reihe in solchem
Geist gehaltene, aber gut geschriebene Bücher über die preußisch-französi-
schen Beziehungen von 1862 bis 1870 veröffentlicht. In Frankfurt wurde
er namentlich von den Russen, aber auch von anderen, geschnitten, weil
er 1855 als Mitglied der Französischen Gesandtschaft in Berlin den Dieb-
stahl organisiert hatte, durch den ein vertraulicher Brief des Kaisers
Nikolaus I. an König Friedrich Wilhelm IV. in die Hände der Franzosen
gelangte. In diesem Brief hatte der Zar seinem Schwager mitgeteilt, daß
die Bastion Malakow nur noch kurze Zeit zu halten wäre. Der Brief, zur
Kenntnis des Generals P£lissier gebracht, entschied über den Fall von
Sebastopol und damit über den Ausgang des Krimkrieges.
Ein großer Beau und Herzenbrecher war der spanische Gesandte Ran-
cis y Villanuova, von dem das Gerücht ging, er sei der erste Liebhaber
der Königin Isabella von Spanien gewesen, also jedenfalls der erste in-einer
langen Reihe. Vielleicht um diese Sünde abzubüßen, zog sich Rancis am
Ende seines Lebens wie Karl V. in ein spanisches Kloster zurück. Er hat
mich im Frühjahr 1873 in Metz besucht, wo ich damals am Bezirkspräsi-
dium arbeitete. Ich zeigte ihm die Schlachtfelder von Gravelotte und Mars-
la-Tour, die ihm staunende Ausrufe der Bewunderung für das Heldentum
der preußischen Garde entlockten.
Der niederländische Gesandte, Herr von Scherff, befand sich in ähn-
licher Lage wie mein Vater. Er vertrat beim Bundestag das Großherzogtum
Luxemburg und einen Teil des Herzogtums Limburg, die, obwohl ein inte-
grierender Bestandteil des Königreiches der Niederlande, zum Deutschen
Bund gehörten. Der Tochter Pauline, in Frankfurt „Paulinche‘“ genannt,
hat in seiner treuen und redlichen Weise unser lieber Kaiser Wilhelm I.
viele Jahre in Freundschaft gehuldigt. Paulinche ist als alte Jungfer ge-
storben, aber die sich nie verleugnende Sympathie des alten Herrn für sie
und die kleinen Aufmerksamkeiten, die er ihr mit seinem feinen Herzens-
takt erwies, verschönten den Herbst ihres Lebens mit Sonnenschein. Der
einzige Sohn der Familie Scherf trat in preußischen Dienst und wurde ein
ausgezeichneter Generalstabsoffizier und bahnbrechender Militärschrift-
steller, der über Strategie und Taktik wertvolle Abhandlungen veröffent-
licht hat.
Mecklenburgischer Gesandter am Frankfurter Bundestag war ein Vetter Der mecklen-
meines Vaters, Bernhard Vollrath von Bülow. Er war der einzige Sohn burgische
des mecklenburgischen Oberstallmeisters Vollrath von Bülow, der sich Pülow