EIN BEQUEMER CHEF 293
auch für einen kreuzbraven Mann, für den besten Gatten und Vater, der
ihm vorgekommen sei. Auch Giuseppe Mazzini bezeichnete er mir als
einen ungewöhnlich edlen Menschen. „Er konnte keiner Fliege etwas zu-
leide tun‘, meinte er. Als ich auf die verschiedenen Attentate hindeutete,
die Mazzini organisiert hatte, erwiderte Bucher: „Da berühren Sie ein
Problem, das gründlich zu erörtern allzuviel Zeit erfordern würde, nämlich,
wie sich Politik und Moral zueinander verhalten. Es ist unbestreitbar,
daß Robespierre nicht nur in Worten, sondern tatsächlich un homme ver-
tueux war, daß viele der sogenannten Terroristen gute, ja weiche und senti-
mentale Menschen gewesen sind.“ Lothar Bucher hatte etwas Bescheidenes,
Stilles, fast Schüchternes. Seine Beziehungen zu Frauen sollen immer pla-
tonisch gewesen sein. Noch als älterer Mann huldigte er auf zarte Weise
einigen Geheimratswitwen, denen er ab und zu Veilchensträuße über-
brachte.
Im Gegensatz zu Lothar Bucher machte Paul Hatzfeldt in keiner Weise
einen gedrückten Eindruck. Sein Aplomb war jeder Situation und jeder
Schwierigkeit gewachsen. Er konnte mit Talleyrand von sich sagen: „Avec
le sourire sur les levres et un front d’airain on passe partout.‘“ Mit Talley-
rand hatte er auch das gemeinsam, daß er amoralisch war, nicht etwa anti-
moralisch. Talleyrand wird von allen, die ihn näher kannten, als liebens-
würdig, gutmütig und nachsichtig geschildert, für sich wie für andere. Paul
Hatzfeldt war seinen Untergebenen ein sehr wohlwollender, bequemer Chef
und im Verkehr nie launisch, nie ungeduldig, geschweige denn aggressiv.
Aber die bürgerlichen Moralbegriffe erschienen diesen beiden eminenten
Diplomaten mehr als konventionelle Formen denn als Gebote eines kate-
gorischen Imperativs im Kantischen Sinne. In religiöser Beziehung be-
gnügten sie sich mit der gelegentlichen Erfüllung der äußeren Formen der
katholischen Kirche, der sie angehörten. Als Talleyrand einmal gefragt
wurde, wie er einen als lasterhaft bekannten Menschen in seiner Umgebung
dulden könne, erwiderte er mit einem charmanten Lächeln: „C'est precise-
ment parce qu’il est si vicieux qu’il m’est sympathique.‘“ Das hätte Paul
Hatzfeldt, wenn auch nicht sagen, so doch denken können. Ich stelle aus-
drücklich fest, daß Perversitäten, wie sie ein Menschenalter später die Ber-
liner Atmosphäre vergifteten, ihm ganz fern lagen.
Lothar Bucher ging nie zu Hofe, da Kaiser Wilhelm erklärt hatte, einen
früheren Revolutionär, Steuerverweigerer und Flüchtling nicht empfangen
zu können. Der sonst so gütige alte Herr hat nie einen Vortrag von Lothar
Bucher entgegengenommen. Vor der Kaiserin Augusta durfte der Name
Bucher überhaupt nicht genannt werden. Paul Hatzfeldt dagegen stand bei
Ihrer Majestät in hoher Gnade, und auch Seine Majestät behandelte ihn,
wenn nicht gerade mit innerer Sympathie, so doch mit großer Courtoisie.