Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

300 DEUTSCHER DOKTRINARISMUS 
Der Engländer sagt: „Right or wrong my country.‘ Er ist von der naiven, 
aber urwüchsigen und felsenfesten Überzeugung durchdrungen, daß das, 
was für England nützlich ist, für die ganze Welt gut sei und daß englische 
Herrschaft überall menschliche Gesittung fördere. Für den Franzosen ist 
Frankreich der Punkt, um den sich alle seine Gedanken und Anschauungen 
drehen. Für den klerikalen Franzosen ist Frankreich la fille ainee de l’Eglise, 
der die anderen Völker zu huldigen haben. Für den radikal orientierten 
Franzosen ist Frankreich la möre de la Revolution und deshalb inı Interesse 
der Verbreitung demokratischer und republikanischer Ideen berufen, die 
Welt und jedenfalls Europa zu leiten und zu beherrschen. Seine An- 
schauungen, Gefühle und Traditionen führen den Franzosen immer wieder 
zu der Überzeugung, daß die Prepond£rance lögitime de la France für die 
Welt die Voraussetzung wahrer Zivilisation und wirklichen, dauernden 
Wohlbefindens sei. Der Italiener hat auch in den Zeiten der Zerrissenheit, 
Schwäche und Ohnmacht der Halbinsel an dem Primato des italienischen 
Genius festgehalten. Die Fremden galten ihn als „Barbaren“, aus innerster 
Seele rief er sein „‚Fuori stranieri!‘“ und schulie seine Geisteskräfte an 
seinem feurigsten Patrivten und gleichzeitig schärfsten Denker, an Nicola 
Macchiavelli. 
Der Deutsche neigt im Innern nicht zur Sammlung und Konzentration, 
sondern zu Spaltung, Föderalismus, Partikularismus und selbst Separa- 
tismus. Nach außen gefallen wir uns in Träumen von dem endlichen Sieg 
des Guten über das Böse, von Völkerverbrüderung und ewigem Frieden, 
die, wie die Geschichte leider lehrt, an der Realität der Dinge und dem 
unveränderlichen Egoismus der Menschen immer wieder zuschanden 
werden. Da uns der massive Nationalstolz abgeht, laufen wir immer wieder 
Gefahr, Deutschland zum Aschenbrödel der Völkerfamilie werden zu 
lassen, wenn nur jeder Deutsche seine verschwommenen Doktrinen in die 
Praxis umsetzen, vor allem aber seine speziellen Partei-Interessen fördern 
kann. Ein böses spanisches Sprichwort lautet: „Ein Spanier gleich einem 
Caballero, ein Engländer gleich zwei Handelsleuten, ein Portugiese gleich 
vier Gaunern, ein Deutscher gleich acht Bedienten.‘“ Vielen Deutschen ist 
die Bedientenrolle, die unser von Hause aus so tüchtiges, in großen 
Momenten heroisches Volk in manchen Zeiten seiner überwiegend tragischen 
Geschichte gespielt hat, nicht einmal klargeworden. Als ich am 11. Dezember 
1899 im Reichstag davon sprach*, daß es Zeiten gegeben habe, wo trotz 
unserer Bildung und trotz unserer Kultur die Fremden auf uns herabsahen 
wie der hochnäsige Kavalier auf den bescheidenen Hauslehrer, wurde ich 
von der Mehrheit unserer biederen Volksvertreter gar nicht verstanden. 
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, 5. 96; Kleine Ausgabe 1, S. 107.
	        
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