300 DEUTSCHER DOKTRINARISMUS
Der Engländer sagt: „Right or wrong my country.‘ Er ist von der naiven,
aber urwüchsigen und felsenfesten Überzeugung durchdrungen, daß das,
was für England nützlich ist, für die ganze Welt gut sei und daß englische
Herrschaft überall menschliche Gesittung fördere. Für den Franzosen ist
Frankreich der Punkt, um den sich alle seine Gedanken und Anschauungen
drehen. Für den klerikalen Franzosen ist Frankreich la fille ainee de l’Eglise,
der die anderen Völker zu huldigen haben. Für den radikal orientierten
Franzosen ist Frankreich la möre de la Revolution und deshalb inı Interesse
der Verbreitung demokratischer und republikanischer Ideen berufen, die
Welt und jedenfalls Europa zu leiten und zu beherrschen. Seine An-
schauungen, Gefühle und Traditionen führen den Franzosen immer wieder
zu der Überzeugung, daß die Prepond£rance lögitime de la France für die
Welt die Voraussetzung wahrer Zivilisation und wirklichen, dauernden
Wohlbefindens sei. Der Italiener hat auch in den Zeiten der Zerrissenheit,
Schwäche und Ohnmacht der Halbinsel an dem Primato des italienischen
Genius festgehalten. Die Fremden galten ihn als „Barbaren“, aus innerster
Seele rief er sein „‚Fuori stranieri!‘“ und schulie seine Geisteskräfte an
seinem feurigsten Patrivten und gleichzeitig schärfsten Denker, an Nicola
Macchiavelli.
Der Deutsche neigt im Innern nicht zur Sammlung und Konzentration,
sondern zu Spaltung, Föderalismus, Partikularismus und selbst Separa-
tismus. Nach außen gefallen wir uns in Träumen von dem endlichen Sieg
des Guten über das Böse, von Völkerverbrüderung und ewigem Frieden,
die, wie die Geschichte leider lehrt, an der Realität der Dinge und dem
unveränderlichen Egoismus der Menschen immer wieder zuschanden
werden. Da uns der massive Nationalstolz abgeht, laufen wir immer wieder
Gefahr, Deutschland zum Aschenbrödel der Völkerfamilie werden zu
lassen, wenn nur jeder Deutsche seine verschwommenen Doktrinen in die
Praxis umsetzen, vor allem aber seine speziellen Partei-Interessen fördern
kann. Ein böses spanisches Sprichwort lautet: „Ein Spanier gleich einem
Caballero, ein Engländer gleich zwei Handelsleuten, ein Portugiese gleich
vier Gaunern, ein Deutscher gleich acht Bedienten.‘“ Vielen Deutschen ist
die Bedientenrolle, die unser von Hause aus so tüchtiges, in großen
Momenten heroisches Volk in manchen Zeiten seiner überwiegend tragischen
Geschichte gespielt hat, nicht einmal klargeworden. Als ich am 11. Dezember
1899 im Reichstag davon sprach*, daß es Zeiten gegeben habe, wo trotz
unserer Bildung und trotz unserer Kultur die Fremden auf uns herabsahen
wie der hochnäsige Kavalier auf den bescheidenen Hauslehrer, wurde ich
von der Mehrheit unserer biederen Volksvertreter gar nicht verstanden.
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, 5. 96; Kleine Ausgabe 1, S. 107.