HESSEN-KASSEL 17
sagte mir unser Hauslehrer: „Das ist Herr Schopenhauer, der über-
geschnappte Philosoph, von dem der Herr Doktor Stiebel uns erzählt hat.“
In meinem Hauslehrer Lohr hatte ich einen warmherzigen Patrioten zum
Mentor. Sein Nachfolger Hopf war auch ein Hesse, aber von anderer Rich-
tung. Von ihm sollte ich lernen, wie weit deutsche politische Verstiegenheit
gehen kann. Er war aus den Kreisen des Literarhistorikers Vilmar in
Marburg hervorgegangen, der in Kurhessen eine der Hauptstützen des
ultra-reaktionären und starr-orthodoxen Systems Hassenpflug war. Unter
den kleinen deutschen Dynastien hat kaum eine mehr gesündigt als das
Haus Kurhessen, das sich durch den Verkauf von hessischen Landes-
kindern an England mit Schmach bedeckte. Der Landgraf Friedrich II.
ließ zwölftausend arme Hessen in englischem Solde gegen Nordamerika
kämpfen, wofür er 21276 778 Taler erhielt, die ihm dazu dienten, das
prächtige Schloß Wilhelmshöhe zu erbauen. Seine Nachfolger schienen
zeigen zu wollen, wie weit man eine ehrliche und treue Bevölkerung in
Deutschland kujonieren könne, ohne sie zu offenem Aufruhr zu treiben. Es
gibt ein köstliches Gedicht von Chamisso, dem eine wahre Begebenheit zu-
grunde liegen soll. Der Kurfürst streicht eines Abends durch die Straßen
seiner Residenz Kassel. Er hört durch ein offenes Fenster, wie ein altes
Frauchen laut zu Gott betet um ein recht langes Leben für ihren gnädigen
Herrn. Sehr verwundert fragt der Kurfürst die Alte, wie in aller Welt sie
zu solchem Gebet komme. Sie erwidert ihm, der Großvater des regierenden
Kurfürsten habe ihr von acht Kühen die beste genommen, weswegen sie
ihm geflucht habe. Ihm sei sein Sohn gefolgt, der ihr zwei Kühe abge-
nommen habe. Sie habe auch diesem geflucht, und arg geflucht.
Dann kamen höchst Sie selbst an das Reich
Und nahmen vier der Kühe mir gleich.
Kommt dero Sohn noch erst dazu,
Nimmt der gewiß mir die letzte Kuh.
Laß unsern gnädigen Herrn, o Herr,
Recht lange leben, ich bitte dich sehr!
Die Not lehrt beten.
Das Gedicht ist überschrieben „Das Gebet der Witwe‘. Das skandalöse
Privatleben dieser Kurfürsten stand auf der Höhe ihrer sinnlosen Regie-
rungs-Praxis. Trotzdem fanden sie Anhänger, die ihnen durch dick und
dünn folgten und ihnen auch nach ihrem Sturz treublieben, als Kurhessen
1866 aus solcher Mißwirtschaft erlöst und mit Preußen vereinigt wurde.
Zu diesen Eigenbrötlern gehörte auch mein Lehrer Hopf. Er redigierte
während vieler Jahre ein Blatt, das nach der Einverleibung von Hessen in
die preußische Monarchie den kurhessischen Partikularismus vertrat. Er
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Hauslehrer