Florenz und
Pisa
322 ITALIENISCHE STÄDTE
In Lyon stand ich auf der Place des Brotteaux. Hier hatte von einem
Balkon aus, zwischen zwei wenig bekleideten Kurtisanen sitzend und eine
wohlgedeckte Tafel vor sich, Joseph Fouche sich an dem Anblick der
Tausende geweidet, deren Kopf unter dem Fallbeil der Guillotine fiel, die
auf dem Platz aufgestellt war. Zu gleicher Zeit wurden Esel durch die
Straßen getrieben, an deren Schwänzen heilige Kirchengefäße angebunden
waren, auf deren Profanierung es Fouch£, ein ehemaliger Mönch, besonders
abgesehen hatte. Diese Vergangenheit verhinderte ihn nicht, unter Napoleon
erst Polizeipräfekt von Paris und dann Minister des Innern zu werden.
Allerdings erfreute Fouche sich eines unerschütterlichen Aplomb. Bei dem
großen Galadiner, das Napoleon zu Ehren seiner Vermählung mit der
Erzherzogin Marie Luise in den Tuilerien gab, frug er den ihm gegenüber
sitzenden Fouche, den er zum Herzog von Otranto erhoben hatte, mit der
ihm gelegentlich eigenen Brutalität: „Est-ce vrai, Duc d’Otrante, que vous
avez vote la mort du roi Louis XVI, oncle de l’Imp£ratrice qui est assise ä
ma droite?‘“ Mit lauter, dröhnender Stimme erwiderte Fouche: ‚Par-
faitement, Sire, et c’est m&me le premier service qu’il m’a &t& donn& de
rendre ä Votre Majest& Imp£riale et Royale.“
Avignon, Nimes, Toulon und Marseille haben um die gleiche Zeit, 1793,
ähnliche Schandtaten gesehen. Nach dem Sturz von Napoleon wütete
ın Südfrankreich die Terreur blanche, die es nicht viel besser trieb als
seinerzeit die Terreur rouge und der u. a. der Marschall Brune in
Avignon zum Opfer fiel, den der Pöbel in Stücke riß. Alles das vergißt
ganz Frankreich, wenn die Marseillaise ertönt: „„‚Aux armes, citoyens, formez
vos bataillons.““ Bei uns ist es niemals zu annähernd so blutigen Partei-
kämpfen gekommen wie in Frankreich, aber die Parteien werfen sich Reden
vor, die dieser oder jener Angehörige der Gegenpartei vor einem Jahr-
zehnt gehalten hat.
In Genova la superba gedachte ich des „republikanischen Trauerspiels“
unseres Schiller, des „Fiesco“, während ich die herrlichen Adelspaläste
Durazzo, Pallavicini, Balbi, Doria besuchte. Auf Florenz verwandte ich
acht Tage. Der schöne Roman „Le Lys rouge‘“‘ von Anatole France war
noch nicht geschrieben, sonst hätte ich ihn vor meiner Ankunft in Firenze,
la bella, gelesen, um mich in die richtige Stimmung zu versetzen.
Eine besondere Anziehungskraft hat immer Pisa auf mich ausgeübt.
Wenn ich mich gelegentlich abgehetzt fühlte oder mich geärgert hatte,
dachte ich, wie schön es sein müßte, im stillen Pisa zu leben, vormittags
den herrlichen Campo Santo zu besuchen, dessen Wandgemälde uns so
ergreifend die Macht und den Ernst des Todes vor Augen führen, nach-
mittags am Lungarno zu schlendern und auf den Fluß zu blicken, der ruhig
und still vorbeifließt.