Fahrt
nach Neapel
340 WIE RASTIGNAC
ergehen werde als ihm. Solamen miseris socios habuisse malorum. Die Frau
Kronprinzessin hielte den Staatssekretär von Bülow für einen unerschütter
lichen Bewunderer des Kanzlers, mit dem er seit vielen Jahren persönlich
befreundet sei. Der Vater Bülow neige auch mehr zu konservativen als
zu liberalen Ideen, und der Sohn sei nicht besser als der Vater. „Die Frau
Kronprinzessin“, schloß Keudell, „die, wie Sie wissen, liberal ist, kann Sie
so wenig leiden wie Ihren Herrn Vater.“
Als ich diese traurige Mär vernommen hatte, fühlte ich das Bedürfnis,
mich zu sammeln, und griff nach dem Buch, das ich mir als Reiselektüre
mitgenommen hatte. Ich habe immer das Lesen eines ernsten und gehalt-
vollen Buches als ein gutes Mittel befunden, Gemütserregungen zu be-
ruhigen und wieder zu innerem Gleichgewicht zu gelangen. Das Buch, das
ich in Florenz aus meiner Reisetasche hervorzog, war ein Roman des von
mir in meinen jungen Jahren sehr bewunderten und auch jetzt noch hoch-
geschätzten Honore de Balzac. Es war der Roman „,‚Le Pöre Goriot“. Ich
las das Buch in einem Zug durch. Dann schrieb ich auf die erste Seite des
Bandes die Sätze, mit denen der ‚‚Pere Goriot‘ schließt: „„Rastignac, reste
seul, fit quelques pas vers le haut du cimetiere, et vit Paris tortueusement
couch& le long des deux rives de la Seine, oü commencgaient a briller les
lumieres. Ses yeux s’attachaient presque avidement entre la colonne de la
place Vendöme et le döme des Invalides, la oü vivait ce beau monde dans
lequel il avait voulu penötrer. Il lanca sur cette ruche bourdonnante un
regard, quisemblait paravance en pomper le miel, et dit cesmots grandioses: —
A nous deux, maintenant! Et pour premier acte de defi qu’il portait ä la
societe, Rastignac alla diner chez madame de Nucingen.““ Ich beschluß, es
ebenso zu machen wie Rastignac, und schrieb noch am selben Abend an die
Fürstin Y., indem ich mich für den Mai zum Besuch bei ihr auf ihrem
Schloß ansagte.
Am nächsten Morgen teilte mir Keudell mit, daß der Kronprinz, von
ihm und mir begleitet, nach Neapel fahren würde, um dort dem König
Viktor Emanuel einen Besuch abzustatten. Die lange Fahrt von Florenz
nach Neapel bot mir zum erstenmal Gelegenheit, dem Kronprinzen näher-
zutreten. Als ich bei der Parade des VIII. Armeekorps auf dem Schlachtfeld
von Amiens am 13. März 1871 im Gliede vor ihm hielt, erschien mir der
Sieger von Weißenburg und Wörth, im Koller der Pasewalker Kürassiere,
als die Verkörperung deutscher Heldenhaftigkeit. Jetzt lernte ich den
gütigen, wohlwollenden Menschen kennen. Man fühlte sich dem Kron-
prinzen gegenüber in keiner Weise befangen. Er unterhielt sich mit Keudell
über die italienischen Zustände und über die Beziehungen zwischen Italien
und Deutschland. Alles, was er sagte, war so verständig wie möglich. Er
hörte dem Gesandten aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Wo er