DUNKLE WOLKEN AM HORIZONT 347
Ich frug meinen Vater, was die alarmierenden Artikel unserer offiziösen
Presse zu bedeuten hätten, die seit Anfang April die Welt in Aufregung
versetzten und in Berlin das allgemeine Gesprächsthema bildeten. Ich muß
sie kurz resümieren. Ende März hatte die regierungsfreundliche „Kölnische
Zeitung“ einen Artikel gebracht, der, an die überhastige Vermehrung des
französischen Heeres durch das Cadre-Gesetz anknüpfend, die Möglichkeit
einer Aussöhnung des Papstes mit Italien und einer Allianz zwischen dem
Vatikan, Frankreich, Österreich und Italien an die Wand malte. Diese in
Vorbereitung befindliche „Katholische Liga“ sei freilich erst nach dem
Sturz des Grafen Andrässy, des österreich-ungarischen Ministers des
Äußern, möglich. An diesem Sturz, so schloß der Warnungsruf der
„Kölnischen Zeitung“, werde von verschiedenen Seiten und mit Eifer
gearbeitet. Am 8. April brachte unter der Überschrift „Ist Krieg in
Sicht?“ eine offiziöse Berliner Zeitung, „„Die Post“, einen weiteren Artikel,
der mit den Worten anfing: „Seit einigen Wochen hat sich der politische
Horizont mit dunklen Wolken bezogen.“ „Die Post‘ reproduzierte das „in
sehr ernsten Farben gehaltene Gesamtbild“, das die „Kölnische Zeitung“
von der gegenwärtigen Lage entworfen habe, und fügte ihrerseits hinzu,
daß sie weit davon entfernt sei, die Richtigkeit der Ausführungen des
rheinischen Blattes ‚im Ganzen“ in Abrede zu stellen. Sie könne vielmehr
dieses trübe Gesamtbild durch manche Züge ergänzen, die sie ihrer eigenen
Beobachtung entnehme. Wenn sie demnach ihre an die Spitze gestellte
Frage: „Ist der Krieg in Sicht?“ beantworten wolle, so müsse sie sagen:
„Der Krieg ist allerdings in Sicht, was aber nicht ausschließt, daß die Wolke
sich zerstreut.“
Wieder einige Tage später hatte die hochoffiziöse „Provinzial-Kor-
respondenz‘ einen Beschwichtigungsartikel gebracht, der aber deshalb
keinen dauernden Eindruck machte, weil nicht lange nachher die Londoner
„limes‘“ einen Alarmartikel gegen Deutschland publizierte, der in der
Behauptung gipfelte, daß Deutschlands Industrie, sein Handel, seine
Finanzen, seine sozialen Verhältnisse den Druck seiner militärischen Aus-
gaben nicht mehr lange aushielten. Wenn Deutschland aber, um seinen
Ruin abzuwenden, sich entwaffne, würde Frankreich in drohender Bereit-
schaft gerüstet dastehen. Um nun diesem Dilemma zu entgehen, betrachte
die deutsche Militärpartei den gegenwärtigen Moment als besonders günstig,
um dem Deutschen Reich eine lange Periode des Gedeihens und des Friedens
zu sichern. Die „‚Times‘ hatte diesen Alarmartikel ausdrücklich als eine
ihr von Paris zugesandte „französische Vogelscheuche“ bezeichnet. Das
hinderte aber nicht, daß diese Auslassung, die auf den französischen
Minister des Äußern, den Herzog Decazes, zurückgeführt wurde, von allen
Gegnern Deutschlands nach Kräften gegen uns ausgebeutet wurde.
„Ist Krieg in
Sicht?“