Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Bismarcks 
Motive 
348 KEIN LOKALISIERTER KRIEG MÖGLICH 
Die allgemeine Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als am 10. Mai der 
Kaiser Alexander II. von Rußland, von seinem Reichskanzler, dem Fürsten 
Gortschakow, begleitet, auf dem Wege nach Ems für einen dreitägigen 
Besuch in Berlin eintraf. Ehe der Zar Berlin verließ, empfing er die dort an- 
wesenden fremden Botschafter und erklärte ihnen, der Friede sei gesichert. 
Gleichzeitig richtete Fürst Gortschakow eine Mitteilung gleichen Inhalts 
an die russischen Vertreter im Ausland, deren Wortlaut er vor der Ab- 
sendung den hervorragendsten Mitgliedern des Diplomatischen Corps in 
Berlin vorlas. 
So standen die Dinge, als mein guter Vater, der sichtlich noch unter dem 
Eindruck seines Gesprächs mit dem Kronprinzen stand, zwischen elf und 
ein Uhr nachts in der Behrenstraße mit mir auf und ab ging und mir die 
Situation darlegte. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis und entsinne mich 
genau sciner Ausführungen. Er sagte zu mir: „Wenn du den wirklichen 
Zusammenhang der Dinge wissen willst, so kann ich dir im Vertrauen auf 
deine Diskretion folgendes sagen: Unser großer Kanzler hat sich nach 
und nach davon überzeugt, daß die Franzosen uns ihre Niederlage und die 
Abtrennung von Elsaß-Lothringen nicht verzeihen und jedem als Bundes- 
genossen zur Verfügung stehen, der bereit ist, es auf den Krieg mit uns an- 
kommen zu lassen, am liebsten natürlich den Russen, unter gewissen 
Voraussetzungen auch den Engländern. Andererseits hat Fürst Bismarck 
allmählich den Eindruck gewonnen, daß wir zwar Frankreich als per- 
manenten Gegner in unsere diplomatische Rechnung einstellen müssen, daß 
wir es aber doch nicht tödlich getroffen, es nicht wirtschaftlich und nament- 
lich militärisch dauernd aktionsunfähig gemacht haben. Die Hoffnung, daß 
die Franzosen sich durch innere Parteikämpfe zugrunde richten werden, 
ist bei ihrem leidenschaftlichen Patriotismus und ihrer strammen Zen- 
tralisation keineswegs sicher. Alle diese Erwägungen beunruhigen den 
Kanzler. Du mußt aber deshalb nicht glauben, daß er den Krieg will. 
Auch der Kaiser und der Kronprinz wollen von einem anderen als von 
einem Verteidigungskrieg nichts hören. Der Kronprinz war soeben sehr 
zufrieden, als ich ihm die Überzeugung ausdrückte, daß wir Frieden be- 
halten würden. Und was Bismarck angeht, so wiederhole ich dir, daß er seit 
dem Frankfurter Frieden keine weiteren Kriege geplant noch gewünscht hat. 
Vestigia Napoleonis terrent. Aber er hielt es für nützlich, die Franzosen 
einzuschüchtern. Er wollte einen sehr kräftigen kalten Wasserstrahl, 
wie er das nennt, nach Paris richten. Dabei hat sich nun herausgestellt, 
daß wir einen zweiten Krieg gegen Frankreich nicht würden führen können, 
ohne daß die Russen und wohl auch die Engländer sich einmischen. Ein 
lokalisierter Krieg unter den europäischen Hauptmächten, zwischen 
Deutschland und Frankreich, Italien und Frankreich, Rußland und
	        
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