St. Wolfgang
352 AN DER TRAUN
mit ihrer kleinen Hand den Mund. Sie fürchte im Gegenteil, mich zu sehr
zu lieben. „Ich habe das dunkle Gefühl‘, meinte sie, „als ob diese Liebe
mein Unglück werden könnte. Große Liebe führt zu großem Leid, sagt man.“
Am zweiten Tage nach meiner Ankunft in Ischl machten wir bei strah-
lender Julisonne einen Ausflug nach Strobl am Wolfgangs-See, auf dessen
grünblaue Wasser wir lange blickten, bevor wir den Heimweg antraten. Am
Abend, es war eine sternenklare Nacht, und eine ganz milde Luft strömte
durch die offenen Fenster ihres Schlafzimmers, durchmaß ich das Zimmer
mit großen Schritten, halb von Sinnen. „Ich werde wahnsinnig‘, wieder-
holte ich, meiner Sinne nicht mehr mächtig, monoton, wie eine Litanei,
immer wieder. Endlich erhob sie sich von dem Stuhl, auf dem sie saß. Mit
leiser Stimme, lächelnd und doch mit einem traurigen Ausdruck in den
schönen Zügen, meinte sie: „Es wäre doch zu schade, wenn ein so liebens-
würdiger und dabei begabter Jüngling wegen mir ganz den Verstand ver-
löre.‘“ Und sie sank in meine Arme. Während der ganzen Nacht hörten wir
das Rauschen der Traun, wie ein Hochzeitslied der Natur.
Als ich am Morgen in mein Zimmer zurückkehrte, erwartete mich dort
eine Überraschung. Ein Brief meines Vaters war eingetroffen, der die
Meldung des Direktors im Auswärtigen Amt, Exzellenz von Philipsborn,
über das Ergebnis meiner diplomatischen Prüfungsarbeit enthielt. Adolf
Wagner hatte nach dieser Mitteilung meine Arbeit über die italienischen
Finanzen als eine ‚‚sowohl in materieller wie in formeller Hinsicht in außer-
gewöhnlichem Maße gelungene“ beurteilt. In dem Augenblick, in dem ich
diesen mich sehr interessierenden Brief las, trat die Fürstin in mein Zimmer.
In ihren Augen war ein feuchter Schimmer, den ich noch nicht bei ihr
gesehen hatte. Sie hielt mir die Lippen zum Kusse hin. „Erst lies diesen
Brief“, rief ich ihr zu, „die Arbeit, die ich im April in Albano über die
italienischen Finanzen verfaßte, ist von Adolf Wagner, dem großen
Nationalökonomen, sehr günstig beurteilt worden.‘ Sie sah mich starr an,
dann brach sie in Tränen aus. „Dir“, schluchzte sie, „wird der Ehrgeiz
immer höher stehen als die Liebe.“ Hatte sie recht? Zweifellos für sich
selbst und in ihrem eigenen Falle. Aber ich sollte noch der Frau begegnen,
deren Liebe mir höher stand als jede persönliche Ambition. Gewiß nicht
höher als das Vaterland, das mir immer und in jeder Lage am höchsten
stand. Aber höher als das, was die Menschen Karriere nennen, als alle
äußeren Auszeichnungen und Triumphe der Eigenliebe.
Zwei Tage später siedelten wir nach St. Wolfgang über. Ischl war uns
zu sehr Modebad, zu unruhig und zu banal. Wir zogen St. Wolfgang vor,
mit seinem See, der sich bei Strobl so freundlich und so einladend vor uns
ausgebreitet hatte. Wir fuhren durch das Tal des Ischlflusses, zwischen
hohen Waldbergen und den über sie aufragenden Schroffen des Looskogels