354 „WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE“
anstellen konnte. Wir fuhren zum Falkenstein, wo ein berühmtes Echo ist,
und freuten uns, wenn das Echo den Unsinn, den wir ihm zuriefen, verstärkt
wiedergab. Wir betrachteten mit Bedauern das Hochzeitskreuz, das auf
einem Felsenriff nach Art der landesüblichen Marterln zum Gedächtnis des
tragischen Endes einer Hochzeitsgesellschaft errichtet war, die vor langer
Zeit auf dem Eis des Sees sich vergnügt hatte und, als es brach, ertrunken
war. Besser war es einem Metzger ergangen, dessen Ochse wild geworden
war und in den See sprang. Der resolute Metzger war ihm nachgesprungen,
hatte den Ochsen beim Schwanze gepackt und war so bis zum jenseitigen
Ufer geschwommen. Ihm zu Ehren hatte man das Ochsenkreuz errichtet.
Zweimal bestiegen wir von St. Wolfgang aus den Schafberg, der im Salz-
kammergut „unser Rigi“ genannt wurde. Wir übernachteten oben im Heu
und fanden, daß am Morgen beim Sonnenaufgang die Aussicht vom Schaf-
berg, wenn auch nicht so umfassend und weit, so doch noch schöner und
malerischer sei als vom Schweizer Rigi.
Ich will nicht verschweigen, daß ich mich geistig nicht ganz mit meiner
schönen Freundin verstand. Sie hatte eine mir unverständliche Vorliebe für
jene Art Literatur, die man heute mit einem mir übrigens nicht besonders
sympathischen Ausdruck als Kitsch bezeichnet. Sie schwärmte für Louisa
de la Ramöe und ihren unter dem Pseudonym ‚Ouida‘““ erschienenen faden
Roman ‚Under two flags“. Ein nicht viel besserer Roman von Jules
Sandeau, dem ersten Liebhaber der ihm sehr überlegenen George Sand,
. die ganz banale ‚„„Marianne“, entlockte ihr Tränen der Rührung. Meinen
Enthusiasmus für die Ilias und die Aeneis, für Aristophanes und Tacitus
verstand sie nicht. Und als ich ihr „Wilhelm Meisters Lehrjahre‘“ vorlas,
gähnte sie. Ich fürchte, daß sie, wenn ich ihr „Wilhelm Meisters Wander-
jahre‘ vorgelesen hätte, eingeschlafen wäre. Ich kann nicht sagen, daß mich
solche literarische Meinungsverschiedenheiten damals gestört hätten. Aber
bei dauernder Lebensgemeinschaft würden sie sich bemerkbar gemacht
haben.
Wenn ich heute als alter Mann an jene Zeit und insbesondere an die
Tage am Wolfgang-See zurückdenke, so frage ich mich, wie ich mich damals
mit meinem Gewissen abfand. Dachte ich nach, handelte ich unter dem
Druck des Sturmes der Gefühle? Machte ich mir Vorwürfe, oder fand ich
alles in schönster Ordnung? Offen gesagt, weder das eine noch das andere!
Ich befand mich in jenem Seelenzustand, den italienische Theologen „,‚la
pace del impio“‘ nennen. Wenn mir hie und da Gedanken über die moralische
Seite der mich erfüllenden Leidenschaft kamen, so tröstete ich mich mit
dem englischen Sprichwort, das meint, daß ‚‚in war and in love everything
is fair“. Da ich außerdem selbstverständlich bereit war, als Edelmann und
Offizier mit der Waffe in der Hand jede Art von Genugtuung zu gewähren,