XxXVI KAPITEL
Diplomatisches Examen +» Versetzung nach St. Petersburg (1875) - Reise dorthin » Graf
Alvensleben » General von Werder » Der Raswod » Zar Alexander II. »- Der Zarewitsch
Reformprogramm Andrässys für den Balkan » Die Petersburger Gesellschaft - Slawische
Frauen, russische Mädchen » Russische Literatur
ls ich wenige Tage nach der Begegnung mit Lothar Bucher nach Berlin
zurückkehrte, merkte ich meinem Vater an, daß mein etwas langer
Aufenthalt in St. Wolfgang nicht nach seinem Sinn gewesen war. Ich hatte
an sich ja kein sehr gutes Gewissen, konnte aber ein Aktivum buchen, das
bewies, daß ich auch während jenes Idylis meiner Arbeit nicht vergessen
hatte. Ich hatte in St. Wolfgang die vielleicht schwierigste meiner Arbeiten
für das diplomatische Examen angefertigt. Sie war mir von Professor
Gneist gestellt worden und behandelte die Frage, welche Regeln bei
inneren Parteikämpfen eines europäischen Staats für das Verhalten anderer
Mächte nach internationalem Rechte aufzustellen sind. Ich bilde mir noch
heute etwas darauf ein, daß ich gerade in St. Wolfgang eine Arbeit zustande
brachte, die Gneist zu nachstehendem, offenbar befriedigtem Urteil veran-
laßte: „Die Darstellung ist von löblicher Kürze, sachgemäß, klar und
fließend. Das Urteil des Verfassers ist überall praktisch und unbefangen.
Die Arbeit kann als eine gute bezeichnet werden.‘“ Mein Vater aber sah
offenbar mehr auf die Passiva der Tage in St. Wolfgang. Er enthielt sich
jeder Äußerung, die meine Gefühle hätte verletzen können. Er sprach aber
mit ernstem, dienstlichem Nachdruck die bestimmte Erwartung aus, daß
meine bevorstehende diplomatische Prüfung „glatt“, wie er sich aus-
drückte, verlaufen würde. ,„‚Es wäre noch besser, wenn du als Sohn des
Staatssekretärs nicht gut abschneiden würdest.“
Ich arbeitete unter dem Eindruck dieses väterlichen Appells mit ver-
stärkter Intensität und ging am 15. November in das Examen. Ich wachte
an diesem Morgen mit einer starken Migräne auf, ein Übel, an dem ich
damals häufig litt. Mein Vater, dem meine Blässe auffiel und dem ich des-
halb meine Migräne eingestehen mußte, meinte: „La migraine est le mal des
gens d’esprit“, hat Voltaire gesagt. „Wir werden sehen, ob das auf dich
zutrifft. Übrigens freue ich mich fast über dein Kopfweh, denn eine ohne
Mit Aus-
zeichnung
bestanden