Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

EINE WEISSGRAUE SCHATTENSTADT 363 
beobachtet glaubten, den Reisenden in einem entsetzlichen Deutsch ge- 
schmuggelte Zigaretten an, echten Eckauer Kümmel und, sotto voce, ein 
feines Mädchen. So sah ich bei meinem ersten Betreten der russischen Erde 
sogleich zwei charakteristische Typen des altrussischen Lebens vor mir: 
den Gendarmen und den Juden. Lange hat der letztere vor dem ersteren 
gezittert, aber schließlich ist er doch mit ihm fertig geworden, ob zum 
dauernden Wohl des Landes, muß die Zukunft lehren. 
In Petersburg erwartete mich der kaiserliche Geschätsträger Graf 
Johann Alvensleben an der Bahn. Er frug mich, ob ich trotz meiner langen 
Fahrt Lust zu einer Schlittenfahrt durch die Stadt hätte. Gern nahm ich 
den gütigen Vorschlag an, die mir neue Stadt zunächst als Gesamtbild 
auf mich wirken zu lassen. Mein erster Eindruck hier wie schon auf der 
langen Fahrt seit der preußisch-russischen Grenze war der einer unendlichen 
Monotonie. Alles war weiß. Der Boden, auf dem unser Schlitten dahinflog, 
die beschneiten Häuserdächer, Kirchenkuppeln und vereisten Turmspitzen, 
das Eis der zugefrorenen Newa. Dieses einförmige Weiß floß zusammen mit 
dem grauen Himmel, so daß mir mit ‘seinen verschwommenen und ver- 
schwindenden Linien Petersburg wie die Schattenstadt eines Märchens 
erschien, ohne Fundamente, ohne Ecken, luftig und locker. Ich verstand 
das Verschwommene vieler echt russischer Physiognomien, das Unklare, 
Unstete, Uferlose im russischen Denken und Handeln. Ob nun Peter der 
Große gegen die Tradition der russischen Geschichte, im Widerspruch mit 
den innersten Instinkten des russischen Volkes, im Kampf mit der Natur, 
mit Sumpf und Meer, gewaltsam eine neue Hauptstadt ins Leben ruft, oder 
ob Wladimir Lenin das in zwei Jahrhunderten Geschaffene ebenso ge- 
waltsam wieder zerstört. 
Wir fuhren im Nebel am Winterpalais vorbei, in dem sechstausend 
Menschen wohnen sollten und das, nachdem es abgebrannt war, Kaiser 
Nikolaus in wenigen Monaten wieder aufgebaut hatte, noch dazu im 
Winter. Den Minister, der diesen Bau leitete und der seine Karriere als 
der lettische Lakai Kleinmichl, der kleine Michael, begonnen hatte, er- 
hob er in den Grafenstand und verlieh ihm ein tadelloses Wappen mit 
der Devise: „Für Eifer habe ich dich belohnt.‘ Der Wiederaufbau des 
Palastes verschlang Millionen von Rubeln und kostete vielen Menschen das 
Leben. Bei einer Kälte von zehn bis zwanzig und selbst bis dreißig Grad 
unter Null mußte das ganze Gebäude beständig geheizt werden, um die 
Materialien flüssig zu erhalten und die Wände schnell trocknen zu lassen. 
Das war der Geist, in dem die Pharaonen ihre Steinpyramiden erbaut, die 
Tamerlan und Dschingiskan ihre Schädelpyramiden errichtet hatten. Wir 
durchfuhren den Newski-Prospekt, die längste und belebteste Straße der 
Stadt, die an glänzenden Läden, an stolzen Palästen vorbeiführt und in
	        
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