EIN PETERSBURGER SALON 367
wurde. Und nach dem infamen Versailler Diktatfrieden wird jeder Deutsche,
der das Herz auf dem rechten Fleck hat, den lieben Gott bitten, daß er den
Söhnen des Teut gegenüber anderen Völkern das Nationalgefühl stärke, das
sich freilich nicht in Maulheldentum und noch weniger in unüberlegten
Putschen betätigt, sondern darin, daß das Vaterland über alles gestellt
wird, über persönliche Selbstsucht, über jede fraktionelle Borniertheit und
allen Klassenkampf.
Ich verkehrte während meines ersten Petersburger Winters viel im
Hause der verwitweten Gräfin Protassow. Ihr verstorbener Gatte war Der Auf-
unter Kaiser Nikolaus vom Kommandeur der Gardehusaren zum Pro- stand in der
kurator des Heiligen Synods aufgerückt, eine Stellung, die derjenigen des Herzegowina
Präsidenten des Preußischen Evangelischen Oberkirchenrats entsprach.
Als eines Vormittags Kaiser Nikolaus, der sich am Tage vorher über den
früheren Prokurator des Synods geärgert hatte, einem Regimentsexerzieren
der von Protassow kommandierten Gardehusaren beiwohnte, das sehr flott
ging, winkte er den Kommandeur heran und sprach zu ihm: „Ich ernenne
dich zum Prokurator des Heiligen Synods, überzeugt, daß du mir die Bischöfe,
Popen und Mönche ebensogut in Ordnung halten wirst wie deine Husaren.“
Graf Protassow soll die ihm gestellte Aufgabe gar nicht übel gelöst haben.
Wie alle Damen der Petersburger Gesellschaft, zupften die Gräfin Protassow
und ihre liebenswürdigen Töchter im Winter 1875/76 eifrig Scharpie.
Warum und für wen? Für die Aufständischen in der Herzegowina.
Einundzwanzig Jahre nach dem Pariser Frieden zog sich wieder ein Ge-
witter über dem Balkan zusammen. Am 29. Oktober 1875 hatte der russi-
sche Regierungsanzeiger die Aufmerksamkeit der europäischen Kabinette
auf die Beschwerden und Leiden der Christen in der Türkei gelenkt, für die
Rußland in der Vergangenheit zu viele und zu große Opfer gebracht habe,
als daß es nicht das Recht haben sollte, seine Stimme für sie zu erheben.
Am 30. Dezember 1875 richtete Graf Andrässy an die K. und K. Missionen
in London, Paris und Rom eine Depesche, in der er das von ihm aus-
gearbeitete, in Berlin und St. Petersburg approbierte Reformprogramm
für die Balkanhalbinsel entwickelte, das die vollständige, rechtliche und
tatsächliche Gleichstellung der christlichen Religion mit dem Islam forderte.
Während des Winters 1875/76 wurde die Eintracht zwischen den drei
Kaisermächten nicht gestört, die Fürst Bismarck wichtiger schien als das
Schicksal der Türkei oder gar das Los der rivalisierenden Balkanvölker,
die er nur als Objekte seiner Politik betrachtete. So schiebt der Schach-
spieler die Bauern auf dem Brett hierhin und dorthin, verliert sie nie ganz
aus den Augen, aber überschätzt sie noch weniger in ihrer Bedeutung.
Graf Alvensleben war mir ein Vorgesetzter, von dem ich gelernt habe. Graf Johann
In der vortrefflichen Schule seines langjährigen Chefs, des Prinzen Alvensleben