Russische
Literatur
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Lebemann der damaligen Zeit ungewöhnlich zynisch. Sie liebte ihr
Volk, war aber nicht blind für dessen Mängel. Sie zitierte gern das
Wort von Alexander Herzen, dem großen russischen Revolutionär, der
gemeint hatte, daß in Rußland zweimal zwei zuweilen, wenn auch sehr
selten, fünf, meistens drei, aber fast nie vier ergebe. Ihr verdanke ich die
frühe Bekanntschaft mit der russischen Literatur, mit Turgenjew und
Grigorowitsch, die ich beide in späteren Jahren persönlich kennenlernen
sollte, mit Puschkin und Lermontow, mit Gogol und Gontscharow, mit den
beiden ganz Großen, mit Dostojewski und Lew Nikolajewitsch Tolstoi.
Diese Namen sind heute jedem geläufig. Aber noch in den achtziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts begegnete ich in Paris bei gebildeten und
geistreichen Leuten erstauntem und ungläubigem Lächeln, wenn ich von
Tolstoi und Dostojewski sprach und schwärmte. Damit will ich nicht etwa
eine Eigenart der zeitgenössischen Franzosen feststellen. Verständnis-
losigkeit und Unduldsamkeit gegenüber neu aufsteigenden oder nicht
verstandenen literarischen und künstlerischen Strömungen sind in allen
Ländern und zu allen Zeiten zu verzeichnen gewesen. Voltaire verachtete
Shakespeare, Friedrich der Große das Nibelungenlied, Goethe wollte von
Gottfried August Bürger und Heinrich von Kleist nichts wissen. Meister-
werke wie der „Lohengrin“ und der ‚„Tannhäuser“ wurden bei ihrem
Erscheinen von der Berliner und Wiener Kritik in Grund und Boden ver-
dammt und noch der „Nibelungenring‘ bei seiner Aufführung in Bayreuth
1876 von „hochstehenden“ Publizisten mit Hohn und Spott übergossen.
Ich hatte also allen Grund, meiner russischen Freundin dankbar zu scin,
die mir das Verständnis für die Literatur ihres Volkes und damit für seine
Psyche erschloß. Sie wies gern darauf hin, daß viele russische Romane und
gerade die schönsten keinen rechten Abschluß hätten. Einer der be-
rühmtesten aller russischen Romane endige damit, daß der Held in denkbar
trübster Stimmung, mit moralischem Kater und, was beinahe noch
schlimmer sei, mit fürchterlichen Zahnschmerzen in einem langsam
fahrenden Eisenbahnzug einer ganz ungewissen, unklaren Zukunft entgegen-
fahre. So gehe es dem Russen auch im wirklichen Leben. Es fehle ihm eben
an Intensität und Konsequenz. „Lisez Oblomow!“ So gehe es auch dem
ganzen russischen Volk. Hat es den Traum von Byzanz, von Zarigrad
verwirklicht ? „Im Westen‘, meinte die Gräfin T., ‚‚f[abelt man von einem
Testamente Peters des Großen und unterschiebt uns Welteroberungs-
pläne. Das Testament hat nie existiert, und wir werden auch nie die
Welt erobern. Wir gleichen dem Nebel, der mit dem Schnee uns sieben
Monate einhüllt.‘“ Die Gräfin T. hat bisweilen hart am Rande des gesell-
schaftlichen Abgrundes gestanden, ist aber nicht abgestürzt. Die arme
Prinzeß R. ging unter.