DER ERSTE WINTER 371
Durch den Nebel und Schnee des russischen Winters machten wir
herrliche Schlittenfahrten, zu denen mein Kollege von der Botschaft, alter
Regimentskamerad und treuer Freund während meines ganzen Lebens,
Graf August Dönhoff-Friedrichstein, und ich von den liebens-
würdigen Familien Stroganoff, Kreutz, Barclay de Tolly und Woronzow
häufig aufgefordert wurden. Neben der Wonne eines langen und flotten
Galopps auf einem guten Pferd in der römischen Campagna oder am
Strande der Nordsee halte ich eine russische Schlittenfahrt in einer mit drei
Pferden bespannten Troika für eine der wenigen wirklichen Freuden unseres
Lebens, über dessen Unvollkommenbheit sich alle ernsthaften Philosophen
einig sind, von König Salomo bis zu Arthur Schopenhauer. Unter den
jungen Damen, mit denen ich während meines ersten Petersburger Winters
zu tanzen den Vorzug hatte, sind mir zwei in der Erinnerung geblieben,
weil sie in hohem Maße die Eigenschaften besaßen, die das russische junge
Mädchen sympathisch machen, die Reinheit der Seele, verbunden mit
hochfliegendem Idealismus, die Fähigkeit, um einer Idee willen auf die
Güter zu verzichten, die das Leben vergänglich zieren, die Selbstverleugnung,
für eine Idee selbst in den Tod zu gehen. Die junge Komteß Perowskij
war ein stilles Mädchen, die anmutig tanzte und in liebenswürdiger Be-
scheidenheit mit ihrem Tänzer die übliche Ballkonversation führte, aber
mit ihren Gedanken offenbar ganz wo anders war. Das entnahm ich aus der
gelegentlichen Bemerkung, daß die Welt voll Ungerechtigkeit sei, daß
das Volk unglücklich und daß nur der ein guter Mensch sei, der imstande
ist, sich für eine gute Sache zu opfern. Sie ist später, wie die Nihilisten
das nannten, „unter das Volk gegangen“. Und als Alexander II. am
13. März 1881 in Petersburg einem nihilistischen Bombenattentat zum
Opfer fiel, war sie es, die mit ihrem Taschentuch den auf ilın lauernden
Attentätern das Zeichen gab, daß der Zar sich nähere. Sie wurde gehängt.
Turgenjew richtete an ihre Mutter ein stimmungsvolles Gedicht, in dem er
das junge Mädchen pries, das auf blumigen Wiesen hätte wandeln können,
aber den steinigen, steilen Weg mit dem Blick auf ein hohes Ziel vor-
gezogen habe.
Meiner anderen Tänzerin, Fräulein von K., ist ein so tragisches Ende
erspart geblieben. Ich hatte ihr nie den Hof gemacht, unterhielt mich aber
gern in den Tanzpausen mit ihr. Eines Tages frug sie mich ziemlich
unvermutet, ob ich das Gefühl hätte, daß sie und ich zusammen glücklich
werden könnten. Ich kam mir sehr schlau vor, als ich ihr erwiderte, daß
wir beide noch viel zu jung seien, um an eine Verbindung für das ganze
Leben denken zu können. Ich bildete mir nämlich ein, daß sie, ein junges
Mädchen ohne Vermögen und ohne Konnexionen, den hoffnungsvollen
jungen Diplomaten zu einem Heiratsantrag ermuntern wolle. Mit einer
24°
Schlitten-
fahrten
Sofie
Perowskaja