Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

LEKTÜRE 23 
die der heilige Paulus an seinen rechtschaffenen Sohn im Glauben, den 
Timotheus, richtete, dem er schreibt, daß alle Schrift, von Gott eingegeben, 
nütze sei zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Ge- 
rechtigkeit. Mein Vater hatte aber auch nicht vergessen, was Goethe zehn 
Jahre vor seinem Tode an seinen Freund I. S. Zauger schreibt: „Prüfen 
Sie sich immerfort an dem diamantenen Schild der Griechen, in welchem 
Sie Ihre Tugenden und Mängel jederzeit am klarsten erblicken können.“ 
Schon als Kind betrachtete ich mit Andacht die schönen Umrißzeichnungen 
von John Flaxman zur Odysse und zur Ilias. Ich war kaum zehn Jahre alt, 
als ich beide las und damit eine Ahnung erhielt von der stillen Größe und 
der edlen Einfalt der Antike. So wurde ich zum Verständnis des homeri- 
schen Wesens erzogen und von früh an homerisch gestimmt. Darüber wurde 
die Heilige Schrift nicht vernachlässigt. Wir lasen täglich in der Bibel. Als 
ich auf die Schule kam, hatte ich schon das ganze Alte und natürlich auch 
das Neue Testament gelesen. Ich kannte an fünfzig Kernlieder auswendig, 
jene herrlichen geistlichen Lieder, die ein köstlicher Schatz der evan- 
gelischen Kirche sind. Viele von ihnen könnte ich noch heute aufsagen. Vor 
dem Einschlafen beteten wir das alte niederdeutsche Kindergebet von den 
vierzehn Engeln: 
Abends, wenn ik slapen gah, 
Viertein Engel bi mi stahn: 
Twei tau min Haupten, 
Twei tau min Feutten, 
Twei tau mine Rechten, 
Twei tau mine Linken, 
Twei, di mi taudecken, 
Twei, di mi upwecken, 
Twei, di mi wiest 
Int himmlisch Paradies 
Un min Vadding un Mudding ok. 
Ich bin der Ansicht, daß Goethe recht hat, wenn er (ich weiß nicht mehr, 
ob zu Eckermann oder zu einem anderen Freund) sagt, wer mit Aufmerk- 
samkeit und Verständnis die Bibel lese, brauche kaum eine andere Lektüre. 
Buchstäblich freilich faßte mein Vater diese Bemerkung von Goethe nicht 
auf. Von Goethe selbst las ich schon als Kind den „Götz von Berlichingen“ 
und viele Gedichte. Vor allem las ich Schiller. Als ich einmal mit einer 
starken Grippe zu Bett lag, gab mir mein Vater als Trost „Die Jungfrau 
von Orleans“ zu lesen. Sie versetzte mich in eine solche Begeisterung, daß 
ich bei der Lektüre des elften Auftritts im fünften Aufzug, wo auf den 
Flügeln kriegerischen Gesanges die Seele Johannas sich frei aus ihrem 
Kerker schwingt, in Tränen ausbrach. Mein Vater verwies mir solche
	        
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