Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

376 KATHARINA DOLGORUKIJ 
Marie und des Prinzen Alexander von Hessen nicht der hochselige Groß- 
herzog Ludwig II. sei, sondern der großherzogliche Oberststallmeister 
Freiherr August Senarclens von Grancy. Unmutig erwiderte der Cäsare- 
witsch: „Steht die Prinzessin Marie im Gothaischen Genealogischen Hof- 
kalender?“ Als der Gesandte diese Frage bejahte, meinte der verliebte 
Thronfolger: ‚‚Alors, de quoi vous m&lez-vous, imbeeile (durak)?“ In der 
russischen Kaiserfamilie war die Abstammung der späteren Kaiserin 
Maria Alexandrowna und des Prinzen Alexander von Hessen von dem 
schönen Oberststallmeister wohlbekannt. Als ich, damals Botschaftsrat in 
St. Petersburg, 1885 vder 1886 einmal mit dem Großfürsten und der Groß- 
fürstin Wladimir von Zarskoje Selo nach Petersburg fuhr und der Groß- 
fürst, der wie gewöhnlich sehr spät zu Bett gegangen war, unterwegs ein- 
schlief, machte mich seine Frau auf sein gut geschnittenes Antlitz und seine 
Gesichtszüge aufmerksam, die fast etwas Klassisches hätten. Man sehe, 
meinte sie, daß ihr Mann nicht der Enkel des berühmt häßlichen Ludwig Il. 
von Darmstadt sei, sondern des „schönen“ Grancy. Übrigens seien die 
Grancy eine gute Familie. Die Familie Senarclens von Grancy ist in der 
Tat eine sehr gute Familie. Sie stammt aus dem Waadtland, wo, nicht weit 
von Lausanne, ihr Stammschloß steht. 
Die 1841] abgeschlossene Ehe zwischen Alexander II.und Maria 
Alexandrowna war während mehr als zehn Jahren glücklich gewesen. 
Aber die Kaiserin war von Hause aus kränklich. Sie hat das naßkalte 
Petersburger Klima nie recht vertragen. Sie hatte dem Kaiser fünf große 
und starke Söhne und eine stattliche Tochter geboren. Auf Rat der Ärzte 
mußte sie seit der 1880 erfolgten Geburt ihres jüngsten Sohnes, des im 
Laufe der russischen Revolution 1919 in der Peter-und-Paul-Festung in 
Petersburg von den Bolschewisten erschossenen Grußfürsten Paul Alexandro- 
witsch, ein zurückgezogenes Leben führen, das Leben einer Monaca di casa, 
wie man in Sizilien eine Frau nennt, die auf alle irdischen Genüsse ver- 
zichten muß. Seitdem entglitt ihr der Kaiser. Er verliebte sich in ein 
ganz junges Mädchen, die Prinzessin Jekaterina Michailowna Dol- 
gorukij. Ihre Eltern gehörten dem ältesten russischen Adel an, erfreuten 
sich aber keines besonderen Rufes. Die Mutter galt für eine Intrigantin, der 
Vater für einen Taugenichts. Kaiser Alexander hatte die kleine Katharina 
zum erstenmal in Smolny erblickt, in dem Adligen-Fräulein-Stift, das die 
Kaiserin Maria Feodorowna, die Witwe des Kaisers Paul, dort nach dem 
Vorbild von Saint-Cyr, der Schöpfung der Madame de Maintenon, ins 
Leben gerufen hatte. Nebenbei gesagt, hat später, als die Bolschewisten die 
Macht an sich gerissen hatten, die Tscheka ihr erstes Hauptquartier im 
Adligen Stift Smolny aufgeschlagen, was sich in den Tagen ihrer Unschuld 
Jekaterina Michailowna wohl nicht träumen ließ. Als ich 1875 in Peters-
	        
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