AM GENFER SEE 405
Zeichen, daß es für mich Zeit sei, zu gehen. Ich küßte der Fürstin beide
Hände, dann wandte ich mich zur Tür. In dem Augenblick, wo ich das
Zimmer verließ, warf sie mir einen langen, einen guten und innigen Blick
zu. Sie war der Konfession nach katholisch, aber seit ihrer Jugend religiös
völlig indifferent. Trotzdem machte sie in der Richtung, wo ich stand,
dreimal das Zeichen des heiligen Kreuzes. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Sie hat noch zwölf Jahre gelebt. Dann erst hat sie, nicht lange vor dem
Beginn des Weltkrieges, der Tod erlöst, nachdem sie über dreißig Jahre,
vor dem Tode den Toten gleich, ein Leben geführt hatte, das kein Leben war.
Ich kehre zurück zu den Lebenden, von denen Schiller sagt, daß sie
recht haben, und zwar nach Montreux, wohin mich im Herbst 1876 die
Ärzte und mein guter Vater geschickt hatten. Dort angekommen, beschloß
ich, für meine geistige Beschäftigung einen Stundenplan zu entwerfen und
ihn ebenso genau einzuhalten wie die Inhalationen und Bepinselungen, die
ich für meinen Hals zu machen hatte. Ich las zwei Bücher, die mir einen
bleibenden Eindruck machten: „History of Civilisation““ von Buckle, ein
Buch, das aus meinem Gehirn manche irrige Idee fortfegte und mich an
nüchternes Denken und an die induktive Methode gewöhnte. Ich las gleich-
zeitig Taine, seine „Philosophie de l’Art‘, seine „Histoire de la Litterature
anglaise“‘ und den ersten Band der ‚„Origines de la France contemporaine““,
die meisterhafte Abhandlung über das Ancien regime. Henry Thomas
Buckle und Hippolyte Taine sind zwei Schriftsteller, die man von Zeit zu
Zeit immer wieder lesen sollte, um nicht geistig einzurosten. Ich las vor
allem, mit dem Bleistift in der Hand, jede Seite annotierend und über jeden
Satz nachdenkend, das monumentale Werk von Ludwig Hahn über das
politische Leben und Wirken des Fürsten Bismarck. Ich bewohnte ein
kleines Zimmer, unmittelbar am See gelegen, aus dessen Fenster ich meine
alte Freundin, die Dent du Midi erblickte.
So wohl es mir auch an meinem lieben Genfer See gefiel, so siedelte
ich doch, als es kälter wurde, nach San Remo über. Dort hielt ich
an dem Stundenplan fest, den ich mir am Genfer See entworfen hatte.
Nur daß ich mich außer Taine und Buckle auch Renan zuwandte. Ich
las seine „Essais de Critique et de Morale‘“, die schönen Aufsätze über
den Baron Silvestre de Sacy, den bedeutenden Orientalisten, der nach
dem Sturz des ersten Kaiserreichs einer der Führer der aufsteigenden
liberalen Richtung wurde, über Victor Cousin, den Begründer der eklek-
tischen Schule, über Augustin Thierry, einen der größten französischen
Geschichtschreiber, groß nicht allein durch wissenschaftlichen Ernst,
sondern auch durch vollendete Form, Klarheit und Geschmack. Zu dem
Besten, was Renan geschrieben hat, gehört sein Aufsatz über Lammenais
und die Schwenkung, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die
Herbst in
Montreux
Nach
San Remo